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Mirage: Roman (German Edition)

Mirage: Roman (German Edition)

Titel: Mirage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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Schnappschuss seiner Söhne, Malik und Jibril. Die jetzt zehnjährigen Zwillinge lebten bei ihrer Mutter in Basra.
    Samir legte das Foto zu dem Stoß Ausweiskarten und steckte einen Führerschein mit falschem Namen ein. Der gefälschte Führerschein war in erster Linie ein Talisman – sollte er heute Nacht in Schwierigkeiten geraten, würde ihm am ehesten Bargeld heraushelfen. Er vergewisserte sich, dass er davon genug bei sich hatte.
    Er schlich sich durch die Hintertür aus dem Haus, ging zu Fuß zu einer mehrere Häuserblocks entfernten Bushaltestelle und fuhr über den Fluss. Am Antar-Platz in al-Azamiyya stieg er in die U-Bahn um. Während er die Treppe zum Bahnhof hinunterstieg, sah er im Vorbeigehen ein Lachkabinett-Bild von sich im Überwachungsspiegel. Hinter dem Drehkreuz bot ihm das verdunkelte Schaufenster eines Zigarettenladens ein anderes Spiegelbild; wenngleich weniger verzerrt als das erste, schien es noch immer das Bild eines Fremden zu sein. Er wusste, dass es an seiner Körpersprache lag: Zusammen mit seinen Ausweisen hatte Samir auch sein gewohntes Macho-Gehabe zurückgelassen.
    Er nahm einen Zug der Linie 6, der in südöstlicher Richtung fuhr, und wählte einen Waggon aus, dessen einzigeranderer Passagier ein langhaariger Student war, der in einem Biologiebuch las. Samir setzte sich ihm gegenüber hin und wartete, lächelnd, ob der Junge Augenkontakt herstellen würde. Doch der vertiefte sich nur noch mehr in sein Buch.
    Die vordere Tür des Waggons glitt auf, und ein Bahnpolizist stieg ein. Als er den Mittelgang entlangkam und dabei mit seinem Schlagstock auf die leeren Sitze klopfte, richtete sich Samir auf und setzte für einen Moment sein Tagesgesicht wieder auf. Der Polizist streifte ihn mit einem Blick, ging aber weiter, ohne etwas zu sagen.
    An der Haltestelle Bab al-Muatham stiegen drei Männer ein, alle in der schwarzen Uniform der »Schutzengel«, der Straßenpatrouille der Mahdi-Armee. Der Bahnpolizist, der von seinem Kontrollgang zurückkehrte, blieb abrupt stehen und hob seinen Schlagstock; doch als sich alle drei Engel ihm zuwandten, überdachte er seine Optionen und sprang im letzten Moment, als die Zugtüren schon zuglitten, auf den Bahnsteig. Samir war nicht schnell genug, um es ihm nachzutun, also stand er lediglich auf und ging hinüber in den nächsten Waggon. Als er einen Blick zurückwarf, sah er, wie sich die Engel dem langhaarigen Studenten näherten und einer von ihnen gegen die Locken schnippte, die ihm über den Kragen hingen.
    Zwei Haltestellen später wies der Zugführer auf die Umsteigemöglichkeit zur Sadr-Stadt-Hochbahn hin. Als die U-Bahn wieder anfuhr, warf Samir einen weiteren Blick in den anderen Waggon. Die Engel und der Student waren verschwunden.
    Er hätte Seemann werden können, wenn er nicht so wasserscheu gewesen wäre.
    Samirs Onkel Zuhair – eigentlich ein Vetter seines Vaters – war bei der Handelsmarine gewesen. Niemand nannte ihn je Sindbad, aber wie David Cohen war er ein gutaussehender Mann, deswegen war es ziemlich verwunderlich, dass er niemals heiratete. Wann immer er darauf angesprochen wurde, pflegte Onkel Zuhair zu sagen, er sei verheiratet – mit der See. Männern gegenüber fügte er vielleicht noch einen zotigen Witz darüber hinzu, in wie viele »Häfen« er während seiner aktiven Zeit »eingelaufen« sei.
    Selbst jetzt, wo er aus eigener Erfahrung wusste, wie weit ein Mann gehen kann, um sein wahres Wesen zu verbergen, fiel es Samir schwer zu glauben, sein Onkel sei nichts anderes als ein rastloser Heterosexueller gewesen, der eben zufällig den Geruch von Salzluft liebte. Es wäre eine fantastische Tarnung gewesen. Die einzige Erfahrung mit der Hochseefahrt aber, die Samir während einer Klassenfahrt nach Kuwait-Stadt gemacht hatte, war ein Albtraum gewesen. Das Ausflugsboot, das die Klasse zur Insel Failaka bringen sollte, geriet in ein Unwetter, und da das Meer zum Anlegen zu unruhig war, waren sie gezwungen gewesen, den Sturm abzureiten. Samir war überzeugt gewesen, dass sie kentern würden, und als sie endlich wieder im Hafen waren, schwor er sich, dass er so etwas nie wieder durchmachen würde.
    Wenn ihm schon Onkel Zuhairs berufliche Laufbahn verschlossen blieb, so konnte er doch andere Aspekte seines Lebensstils übernehmen. Als Kind und Jugendlicher war Samir übergewichtig gewesen, doch in der Oberstufe fing er an, Sport zu treiben, und mit seiner neuen Figur und dem grimmigen Humor, den er als Schutzmechanismus

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