Miranda - so stolz und so süß (German Edition)
undicht. Dielen waren vom Holzwurm zerfressen und zerbrochen. Überall lag Staub, und das ganze Haus war feucht. Wäre es ein Mensch gewesen, wäre es schon vor Jahren an Vernachlässigung gestorben.
Miranda wurde schwindlig, wenn sie an die Summen dachte, die sie für Reparaturen und Instandsetzung des Gebäudes würde aufbringen müssen, damit es wieder seinen früheren Glanz erhielt. Der Betrag würde ganz bestimmt ihre Mittel übersteigen. Manchmal hatte sie sich schon gefragt, ob sie die ärmlichen Verhältnisse in der italienischen Villa nur gegen ähnliche, wahrscheinlich sogar schlechtere Lebensumstände eingetauscht hatte. Natürlich konnte sie Leos Angebot annehmen, war dann jedoch genötigt, nach Italien zurückzukehren. “The Grange” oder England würde sie nie wiedersehen, und auch Leo nicht.
Dieses Mal ignorierte sie die innere Stimme. Sie hatte nicht die Absicht, Leos Angebot anzunehmen. Das wäre gegen ihre Prinzipien gewesen. Leo war arrogant und unhöflich. Es war ihr unverständlich, dass der liebenswerte, großzügige Julian einen derart rüden Vetter hatte, den er obendrein auch noch gemocht und bewundert hatte. Nun, er hatte nie über eine gute Menschenkenntnis verfügt.
Jemand klopfte an die Tür. Das musste Nancy Bennett sein, die grobknochige Frau unbestimmbaren Alters. Es war tatsächlich Mrs Bennett, die mit einem Krug lauwarmen Wassers ins Zimmer kam. Miranda wusste, dass das Wasser lauwarm war, weil es das immer war, obwohl sie Mrs Bennett schon mehrfach auf diese ärgerliche Tatsache hingewiesen hatte. Mrs Bennett hatte erklärt, dass die zahlreichen Treppen und Korridore, die sie von der Küche her zurücklegen musste, daran schuld seien, dass das Wasser abkühlte. Es stimmte – das Haus hatte Ähnlichkeit mit einem auf mehreren Etagen angelegten Irrgarten, in dem man dauernd irgendwo hoch- oder hinuntersteigen musste. Miranda verlief sich immer noch.
Ein mageres junges Mädchen, das ein viel zu großes Häubchen trug, war Mrs Bennett gefolgt und schaute schüchtern Miranda an.
“Das ist Esme Lennox aus dem Dorf”, erklärte Nancy. “Sie hilft in der Küche aus.”
Miranda zog die Augenbrauen hoch. “Wie viele Dienstboten habe ich jetzt, Mrs Bennett?”
Nancy zuckte mit den Schultern. “Die Leute kommen und gehen, Madam. Das ist ein schrecklich großes Haus, und meine Beine sind auch nicht mehr das, was sie früher waren. Mach deinen Knicks, Esme!”
Esme knickste. Ihre Miene war ängstlich.
Trotz aller Bedenken und des Entschlusses, später ein langes, ernstes Gespräch mit Mrs Bennett zu führen, fand Miranda das Mädchen sofort sympathisch und lächelte es freundlich an.
“Willkommen in ‘The Grange’, Esme. Ich hoffe, du wirst dich hier wohlfühlen.”
“Sie haben Besuch, Madam.” Nancy hatte nichts für Gefühlsduselei übrig.
Überrascht schaute Miranda die Haushälterin an. “Besuch? Wie spät ist es?”
“Kurz vor neun, Madam. Manche Leute wissen nicht, was sich gehört.”
Miranda überging die letzte Bemerkung. “Wer ist gekommen?”
“Miss Sophie Lethbridge aus Oak House.”
Da Miranda mit dieser Mitteilung nichts anfangen konnte und Mrs Bennett keine Anstalten machte, mehr Informationen zu liefern, beschloss sie, sich die Fragen aufzuheben, bis sie Miss Sophie Lethbridge gegenüberstand.
“Haben Sie noch einen Wunsch, Madam?”
“Nein, Mrs Bennett. Sie können gehen.”
Nachdem die beiden Frauen das Schlafzimmer verlassen hatten, stand Miranda auf und machte schnell Morgentoilette. Sie hatte sich geirrt. Das Waschwasser war nicht lauwarm. Es war eiskalt. Geschwind kleidete sie sich an, setzte sich dann an den Frisiertisch und stellte fest, dass sie dunkle Schatten unter den Augen hatte. An diesem Morgen sah sie wirklich nicht besonders gut aus. Die vielen Sorgen raubten ihr die Nachtruhe. Seufzend kämmte sie sich und steckte das feuerrote Haar auf. Es gehörte sich nicht, den ersten Besucher warten zu lassen.
Als sie die Treppe herunterkam, sah sie Mrs Bennetts Vater in der Eingangshalle stehen. An diesem Morgen sah er ganz besonders finster aus.
“Miss Lethbridge ist im Empfangssalon, Madam”, verkündete er.
“Danke, Mr Bennett.”
“Nancy hat ihn sogar geheizt.”
“Nun, das ist eine nette Abwechslung, nicht wahr?”
Der alte Mann schien sich köstlich über diese Äußerung zu amüsieren, denn er trottete kichernd davon. Miranda fragte sich, ob seine Heiterkeit bedeutete, dass er sie endlich akzeptiert hatte, oder er
Weitere Kostenlose Bücher