Mischpoche
fraglos gegen die Genfer Konvention. Bronstein schob Tasse und Teller von sich, zündete sich eine Zigarette an und rief in Richtung Schank: »An Slibowitz! Aber gach a no!«
Der Tatort lag direkt an der Grabenrunde, keine zwanzig Meter vom Geschäft des Bürkl entfernt. Zwei Tage nach dem Verbrechen war jedoch nichts mehr zu erkennen. »Wurde der Tatort nicht abgesichert?«, fragte Bronstein mit galligem Unterton. Er erntete Kopfschütteln. »Nein. Er ist einfach da gelegen, und das war’s.«
»Was soll das heißen, das war’s?«
»Na ja, er hatte diese Wunde im Rücken, und er lag auf dem Bauch. Sonst war da gar nichts. Kein Hut, kein Stock, keine Tatwaffe. Nicht einmal ein Blutfleck auf der Straße. Der gesamte Bereich war so sauber wie ein Schweizer Bahnhof.«
»Gut«, grummelte Bronstein, »dann gehen wir zur Witwe.«
»Ja, das ist eh gleich da. Der Bürkl hat über seinem Geschäft gewohnt.«
Die Befragung der Gattin erbrachte kaum Brauchbares. Wie jeden Dienstag sei ihr Mann zu Mittag nach oben zum Essen gekommen, dann habe er sich zwei Stunden hingelegt, ehe er um 16 Uhr das Geschäft wieder geöffnet habe. Dieses habe er ordnungsgemäß um 18 Uhr geschlossen. Dann sei er noch hinüber zum ›Ochsen‹, einem Lokal außerhalb des Ortskerns, in dem der Deutschnationale Verein seine Versammlungen abhielt, gegangen, von wo sie ihn gegen 10 Uhr abends zurückerwartet hätte. Allein, der Gatte kam nicht.
»Wir haben den Wirt vom Ochsen schon befragt«, beeilte sich der Gendarm zu erklären, »er hat g’sagt, der Bürkl ist um 10 nach 9 gegangen.«
»Wie lange braucht man vom Ochsen da her?«
»Na ja, ich tät’ sagen, 15 Minuten. Vielleicht 20.«
»Das heißt, wenn der Bürkl nicht sinnlos vor seiner eigenen Wohnung herumgestanden ist, dann wurde er gegen halb zehn ermordet, mithin also eine halbe Stunde, bevor er gefunden wurde. Apropos, wer hat ihn denn g’funden?«
»Der Schneider. Der ist auch bei dem Verein, ist aber eine halbe Stunde länger im Lokal geblieben. Sagt er, und sagt auch der Wirt.«
»Aha. Und hat der auch einen Namen, der Schneider?«
»Na, Schneider!«
»Ach so. Das war der Name. Ich dachte, es wäre der Beruf des Mannes. Welche Profession hat er dann, der Schneider?«
»Schneider!«
»Sagen S’ einmal«, Bronstein atmete tief durch, »wollen S’ mich pflanzen?«
»Ganz und gar ned, Herr Major. Der Mann ist Schneider von Beruf und heißt Schneider mit Nachnamen. So etwas soll’s geben.«
Bronstein richtete seinen Blick himmelwärts.
»Gut, alles der Reihe nach.« Verzweifelt versuchte er, sich zu sammeln. »Zuerst geht’s noch zum Sohn, dann zur Tochter und dann zum schneidernden Schneider.«
»Den Sohn können S’ getrost vergessen, Herr Major. Der ist in Wien bei der Volkswehr. Schon seit Oktober. Und er hat keinerlei Heimat- oder Sonderurlaub g’habt seitdem.«
»Gut, verheiratet ist er nicht, der Sohn?«
»Nein.«
»Na gut, dann zur Tochter.«
»Die wohnt drüben in Haschendorf. Hat den Grabner Pauli geheiratet. Ein fescher Kampl, aber komplett Neger. Er arbeitet bei seinem eigenen Vater als Knecht. Und sie, die jetzige Grabnerin, macht ihnen den Haushalt und hilft in der Landwirtschaft mit.«
Innerlich strich Bronstein auch die Tochter von der Liste. Was ihm umso leichter fiel, als es bei einem Knöpferlgeschäft kaum viel zu erben gab. Und auch so deutete nichts auf ein Motiv innerhalb der Familie hin, wenngleich es Bronstein mit Genugtuung erfüllt hätte, die Bluttat als ein simples Verbrechen im Familienkreis entlarven zu können. Aber anscheinend war der Mann doch politischer Ranküne zum Opfer gefallen.
Gemeinsam mit seinen Begleitern suchte er den Schneider auf. Dieser gab an, dass der Vorsitzende des Vereins, ein Mann namens Farbaky, die Mitglieder darauf eingeschworen habe, auf jeden Fall alle Wahlkommissionen aufzusuchen und ganz besonders auf Unregelmäßigkeiten, gleich welcher Art, zu achten. Bürkl habe an jenem Abend lauthals erklärt, es sei ohnehin alles verloren, und habe in der Folge das Lokal vorzeitig verlassen. Er, Schneider, sei noch mit dem Vereinskassier, Franz Josef Suchenwirt, und dem Hagensdorfer Ortspfarrer, der dem Verein auch als Mitglied angehöre, auf eine Partie Karten geblieben, doch nach dem Verlust einer für ihn nennenswerten Summe sei er nach Hause gegangen. Und am Heimweg sei er über Bürkls Leichnam gestolpert.
»War Bürkl, abgesehen von seiner defätistischen Äußerung, sonst irgendwie auffällig an jenem
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