Mischpoche
Abend?«
»Nicht wirklich. Aber seltsam benommen hat er sich schon die ganze letzte Zeit. Wir haben uns alle im Oktober narrisch g’freut, dass wir zu Österreich kommen und sich die depperten Ungarn endlich schleichen müssen. Und noch mehr g’freut haben wir uns, als die Tag’ die Unsrigen kommen sind, aber der Hermann, der war irgendwie nicht mehr ganz bei der Sache. Irgendwas muss da passiert sein, zwischen Oktober und jetzt.«
Bronstein merkte auf: »Was heißt das genau? Wie hat sich dieses merkwürdige Verhalten, wie Sie es nennen, geäußert?«
»Er war einfach nicht mehr wirklich bei der Sache. Ist auf einmal oft zu spät zu den Sitzungen gekommen und dafür früher gegangen. Und während er im Sommer noch ganz beflissen bei jeder Aktion von uns dabei war, hat er sich zuletzt immer öfter entschuldigt und hat g’sagt, er habe keine Zeit.«
»Gut, Herr Schneider, das war vorläufig alles. Ich muss Sie aber bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten.«
»Selbstverständlich. In solch entscheidenden Tagen verlasse ich meine Heimatstadt ohnehin nicht«, entgegnete der Schneider mit einem gerüttelt Maß an Pathos.
Bronstein entließ die beiden Staatsdiener zu ihren Familien und schlenderte alleine zum Geschäft des Bürkl zurück. Dort sah er sich noch einmal um. Im Haus gegenüber nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Blitzschnell wirbelte er herum und erkannte gerade noch, wie ein Vorhang in der Erdgeschosswohnung flatterte. Offenbar hatte ihn jemand aus der dort befindlichen Wohnung beobachtet.
Entschlossen trat er auf das Haus zu und klopfte ans Fenster. Nach geraumer Zeit öffnete eine reichlich verwitterte Alte und sah ihn erwartungsvoll an.
»Sie san heut schon das zweite Mal da. San Sie von der Gendarmerie?«
»Sozusagen«, replizierte Bronstein und hielt der Frau seine Kokarde hin, »schauen Sie oft aus dem Fenster?«
»Na, in meinem Alter hat man nicht mehr viel zu tun, ned wahr. Da ist das Fensterbankl mei ganz privates Theater.«
»Und welche Stücke werden aufgeführt in diesem ihrem Theater?«, fragte Bronstein mit einem komplizenhaften Lächeln auf den Lippen.
»Kabale und Liebe«, gab die Alte nicht minder komplizenhaft zurück.
»Sie meinen«, nun rückte Bronstein ganz nahe an die Person heran, »der Bürkl hat ein Gspusi g’habt?«
»Des, oder eine unheimlich treue Kundschaft.«
Bronstein war sich sicher, nun endlich der Lösung des Falles näherzukommen. »Und kennen S’ diese Kundschaft?«
Nun war es an der Zeugin zu lächeln. Doch diese tat dies eher geheimnisvoll.
»I siech vü. Und i waß, wos i waß.«
»Dessen bin ich mir sicher. Aber leider beantwortet das meine Frage nicht.«
Nun verringerte die Frau den Abstand zu Bronsteins Gesicht und ihre Antwort kam einem Flüstern gleich: »Ane von de Ungarischen! Verstehen S’, Herr Inspektor! Der Ober-Österreicher im Packel mit dem Feind!« Dabei machte die Alte ein bedeutungsschwangeres Gesicht.
»Na, servus Kaiser!« Bronstein bemühte sich, ansprechend beeindruckt zu sein.
»Und hat der Feind einen Namen auch?«
Der Ausdruck seines Gegenübers changierte von triumphierender Überlegenheit zu bedrückter Ratlosigkeit: »Da bin i leider überfragt… Aber«, und dabei kehrte die ursprüngliche Überlegenheit wieder zurück, »sehen S’ den Bäck dort drüben? Da arbeitet die Finsterer Mali. Die hat des ausg’schamte Ungarnluder als Kundschaft. Die weiß sicher, wie des Mensch heißt… Aber leider«, und wieder Bedrücktheit, »erwischen S’ die Mali erst morgen wieder. Weil heut’ haben die G’schäft’ ja alle zu.«
Bronstein bedankte sich wortreich für die erhaltenen Informationen und verbarg dabei, so gut es ging, seinen Ärger. Für einen Augenblick hatte er gehofft, den Fall noch an diesem Nachmittag zu lösen, jetzt aber musste er sich damit abfinden, noch eine Nacht in dieser Ödenburger Einöde zubringen zu müssen. In seiner Verzweiflung machte er einen langen Spaziergang und kam dennoch viel zu früh in sein Hotel zurück. Dort fragte er schließlich schüchtern an, ob in der Herberge ein Buch vorrätig sei, um ihm irgendwie die Langeweile zu vertreiben, doch das Schicksal war ihm nicht wirklich gewogen. Nach minutenlangem Suchen kam der Portier schließlich mit einer abgewetzten Ausgabe von Karl Mays »Der Schatz im Silbersee« zurück, und Bronstein war sich sicher, dieses Buch würde er nicht auslesen.
Dennoch träumte er in der Nacht von Indianern und heißen Kämpfen um
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