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Mischpoche

Titel: Mischpoche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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stolperte Kreuzer im Dornbacher Strafraum, und die gesamte Hakoah- und WAF-Anhängerschaft forderte stürmisch Elfmeter.
    »Aber kauft euch doch eine Brille!«, rief Bronstein auf die andere Seite des Platzes und erntete dafür zustimmendes Gelächter seiner Vereinsfreunde. »Genau«, schrie einer aus dem Kleeblatt, »das war nie und nimmer ein Foul!«
    »Schiri, lass dich ausstopfen!«, brüllten die WAF-Unterstützer, als dieser knapp deutete, das Spiel gehe weiter.
    Doch der Sportclub bekam den Gegner einfach nicht mehr aus seinem Strafraum. Es war ein echtes Glück, dass der Ausgleich so spät gefallen war, denn zwei, drei Minuten, die mochte man irgendwie zu überstehen. Kaum auszudenken, wie das Spiel verlaufen würde, dauerte es noch eine halbe Stunde.
    Bronstein wünschte sich, er wäre religiös. Dann hätte er versuchen können, mit dem Herrgott einen Handel abzuschließen. Er hätte eine Kerze stiften können – oder noch besser, eine Messe lesen lassen. So aber stand er mit leeren Händen vor dem Schöpfer und konnte nur darauf hoffen, dass dieser es mit Dornbach und nicht mit Floridsdorf hielt.
    »Aus is’, Schlusspfiff!«, forderte die Sportclub-Tribüne.
    »So ein Blödsinn!«, antwortete die gegenüberliegende Seite, »zwei Minuten geht’s noch.«
    »Zwei Minuten waren ’s schon vor zwei Minuten«, kam die Replik. Und der Schiedsrichter sah nun, wie um diesen Streit zu entscheiden, selbst auf die Uhr. Anscheinend hatte er ein Faible für salomonische Urteile, denn er bedeutete beiden Trainern, er würde in einer Minute abpfeifen.
    Und wieder strich ein Schuss des WAF haarscharf an Edi Kanhäusers Gehäuse vorbei.
    »Hast g’sehen, Edi? Eine Minute noch. Lass dir Zeit!«, rief ein eilfertiger Zuschauer vom Spielfeldrand, und Kanhäuser nickte gelassen dazu. Er holte in quälender Langsamkeit den Ball, ließ ihn dann ein paarmal vor sich aufspringen, ehe er ihn mit einer mörderischen Wucht in Richtung Wolken donnerte.
    Ewig lang schien er in der Luft zu sein, ehe er nach zwei, drei Sekunden den Höhepunkt seiner Flugbahn erreichte und sich wieder zur Erde senkte. Knapp hinter der Mittellinie sprang er auf. Powolny und Fischera rangen um die Vorherrschaft, ein Geplänkel, ein Straucheln, Fischera lag am Boden. Der Schiedsrichter pfiff Foul.
    Erregt sprang Bronstein auf.
    »Das war doch nie und nimmer ein Foul, du Blindgänger! Dich sollte man verhaften! Na, wart’ nur, du kommst …«
    »Beruhigen Sie sich Ihnen«, begütigte ihn sein Hintermann. »Aufregen bringt ja nix. Außerdem, von dort trifft der eh nie. Und dann is’ eh aus. G’freu’n Sie sich, g’wonnen hamma.«
    »Na, Ihren Optimismus möcht’ ich haben. Wahrscheinlich schießt der jetzt das 2:1, und wir sind im Oa …, und wir haben verloren.« Bronstein vergrub sein Gesicht im Rücken des Vordermanns. Er konnte nicht hinsehen. Alles, was er wahrnahm, war das kollektive Raunen, der Moment der Stille, und dann der aufbrausende Jubel rund um ihn, in dem der Timepfiff des Referees beinahe unterging.
    Tatsächlich. Das Spiel war zu Ende. Der Sportclub war Meister. Bronstein erhob sich und war bereit, jedem auf dem Platz in die Arme zu fallen. Mochten Diebe, Räuber, Schläger darunter sein, ihm war es einerlei. Er hätte sofort eine umfassende Generalamnestie befürwortet. Der Sportclub war Meister, der Fall war gelöst.
    Ein Fall, für den er, Bronstein, keine Belobigung erhalten würde. Aber ein Fall, der ihm teurer war als jeder Orden.
     

1923: Der Salon der Sadisten
    Bronstein hasste den Winter. Es wurde bereits mitten am Tag dunkel, die Temperaturen waren unerträglich, und jetzt, da er seinen 40. Geburtstag begangen hatte, fühlte er sich auch noch alt. Allein die Tatsache, dass Weihnachten vor der Tür stand, besserte seine Laune etwas. Ein Blick auf den Stehkalender, der sich neben seinem Telefonapparat auf der linken Seite des Schreibtischs befand, signalisierte ihm, dass er nur noch vier Arbeitstage zu überstehen hatte, ehe er für den Rest des Jahres retirieren konnte. Das heißt, genau genommen waren es nur noch drei, denn die Uhr, die an der Wand über der Türe hing, zeigte 15 Minuten vor 5. Er konnte eigentlich schon damit beginnen, seinen Schreibtisch aufzuräumen, um sich sodann ins Wochenende zu verabschieden.
    Just da klingelte das Telefon. Bronstein kämpfte mit sich, ob er abheben sollte. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Anruf Arbeit bedeutete, war groß. Und sie würde wohl kaum in 14 Minuten erledigt sein.

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