Miss Daisy und der Tote auf dem Wasser
blieb still. Sie erreichte unbemerkt die Eingangshalle. Unten war es stockdunkel, doch sie schob sich vorsichtig zur Tür zum Salon, ohne die Taschenlampe benutzen zu müssen. Als die Tür sicher hinter ihr geschlossen war, schaltete sie das elektrische Licht an.
Die Vorhänge an den Terrassentüren waren auseinandergezogen, und eine Tür stand offen.
In ihrem Herzen spürte Daisy Angst. Obwohl sie schon so weit gekommen war, hatte sie sich auf der ganzen Strecke zu überzeugen versucht, daß sie sich auf dem Holzweg befand.
Doch hatte hier irgend jemand das Haus verlassen. Warum?
Wer war das gewesen, wenn nicht DeLancey, um das Bootshaus zu bewachen? Seine Verwirrung vorhin war so groß gewesen, daß er durchaus die Tür offen gelassen haben könnte, als er wieder ins Haus gekommen war.
DeLancey oder Bott. DeLancey und Bott? Sie mußte hinuntergehen und nachschauen.
Der Mond, der jetzt genau zwischen Halb- und Vollmond stand, ging gerade unter, als sie die Terrasse überquerte. Dann die Treppe hinunter, über den schon taunassen Rasen, der sich im Mondlicht silbern im Fluß widerspiegelte. Eine Planke quietschte auf, als sie den Bootssteg betrat. Ein rasches Krab-beln, ein Aufspritzen – bestimmt eine Wasserratte. Sicher keine Hausratte, sagte sie sich und erinnerte sich an das Kin-derbuch Wind in the Willows und an den netten freundlichen Ratty.
Die Tür zum Bootshaus stand offen. Daisy blieb davor stehen und lauschte. Der Fluß gurgelte um die Holzkonstruktion des Piers, schlug sanft mit leisem, stetigem Platschen ans Ufer. Süße Themse, gleite leise fort, bis mein Lied geendet hat, heißt es bei Spenser. Hatte Botts Lied schon auf ewig geendet? Ich hab den Vater Themse gesehen, wie er her abfließt zur 71
endlosen See. Nein, das war doch Alph, der heilige Fluß aus der Sage. Und von Xanadu hieß es bei Coleridge:
Ein wilder Ort! So heilig und verzaubert
wie je unter vergehendem Mond ein Zauber waltet …
Wie bedrohlich alles bei Mondschein wirkte!
Kein Laut war aus dem Bootshaus zu hören. Daisy schaltete mit einem Knöchel die Taschenlampe an und erschrak dennoch beim lauten Klick.
Ein tröstlich breiter Lichtstrahl leuchtete auf. Sie ging zur Tür. Als etwas ihre Wange berührte, schrak sie erneut zusammen, um dann aber zu erkennen, daß es nur eine herabhängende Ranke der Clematis war.
Stell dich nicht so an, ermahnte sie sich. Sollte jemand hier draußen sein, dann würde er ihr bestimmt keine Gefahr bedeuten.
Sie leuchtete mit der Taschenlampe im Bootshaus umher.
Von innen wirkte es wesentlich größer, als sein von Blätter-werk verdecktes Äußeres vermuten ließ. Das Licht erreichte gerade noch die weiter entfernten Ecken. Außerdem war ihre Sicht von einem Gerüst mit Rudern und Paddeln verstellt, wie auch von dem anscheinend vollkommen unsabotierten und heilen Viererboot, das kopfüber auf seiner Stellage ruhte. Es paßte gerade so in das Bootshaus, sein glänzender Rumpf erstreckte sich entlang der gesamten Wand gegenüber.
Darin lag wohl keine Leiche versteckt. Immerhin. Aber sie würde ganz in das Häuschen hineingehen müssen, um sich alles richtig anzuschauen.
Die großen Türen zum Fluß waren geschlossen und ver-
riegelt. Das Licht der Taschenlampe wurde von dem stillen, dunklen Wasser des Kanals in der Mitte reflektiert, in dem die Boote hineingeschoben wurden. Auch dort dümpelte keine Leiche.
Kein Stöhnen oder Grunzen, kein Atmen drang an ihre lau-schenden Ohren. Auf Zehenspitzen kam sie an den fröhlich gestreiften, direkt neben der Tür auf den Dielen aufgetürm-72
ten Kissen der Skiffs vorbei, die Taschenlampe hin und her schwenkend. Nichts hinter dem Ständer mit den Rudern
außer ein oder zwei zusammengedrehte Seile, Eisenringe und große Bahnen Leinwand, mit denen die Skiffs zu Zelten auf dem Wasser verwandelt werden konnten. Dann lag da noch weniger leicht zu identifizierendes Zeug, das sicherlich auch irgendwie mit dem Rudersport zusammenhing. Im Schatten hinter dem Vierer war nichts Verdächtiges zu sehen.
Daisy kehrte zum schwarzen Wasser zurück. Das Licht der Taschenlampe drang nicht hindurch. Wenn Bott da unten lag, dann konnte man ihm nicht mehr helfen. Auf keinen Fall würde sie jetzt anfangen, mit einem Bootshaken nach ihm herumzustochern!
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6
Trotz der unruhigen Nacht – vielleicht aber auch wegen ihr –
erschien Daisy als eine der ersten unten im Speisezimmer zum Frühstück, wo sie Cherry und Leigh vorfand. Glücklicherweise, denn das
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