Miss Emergency
es wird eine Weile dauern, bis Isa das zu Bewusstsein kommt. Im Moment ist sie in Tränen aufgelöst. Jenny macht ihr die schlimmsten Vorwürfe. Das Wort »Verrat« ist inzwischen mehrfach gefallen. Isa zittert wie eine nasse Katze. Ich fange mir eine eigene Portion von Jennys Wut ein, weil ich es wage, vorzubringen, dass Jenny selbst Tom in die Wüste geschickt und getönt hat, den Langweiler nicht mehr ertragen zu können.
»Das ist doch scheiÃegal!«, brüllt Jenny. »Es ist MEIN Langweiler!«
An diesem Punkt reicht es mir. Ich werfe sie aus meinem Zimmer. Und zwar nicht nur Jenny, die in einem jähzornigen Rundumschlag kundtut, sie werde uns allen kündigen, sondern auch Isa. Ich kann einfach niemanden mehr ertragen heute. Es tut mir leid. Ich weiÃ, Jenny ist angefressen vom Klinikstress und hat überreagiert. Ich weiÃ, Isa ist jetzt verzweifelt und macht sich wahrscheinlich entsetzliche Vorhaltungen. Aber ich kann nicht mehr â¦
Jennys Tür knallt. Isa heult. Ich hasse die Welt. Aber so herzlos kann ich nicht mal nach drei Nächten Schlafentzug und einer Wüstenwanderung sein. Ich raffe mich noch einmal auf und gehe nach nebenan. Isa liegt auf dem Bett und heult. Auf meinem Anatomiebuch. Oh, Mann. Ich setze mich zu ihr. Was soll man sagen? Isa ist aufgelöst.
»So bin ich doch nicht!«, schluchzt sie. »Ich bin doch keine, die ihren Freundinnen berechnend die Verehrer ausspannt!«
»Erklär ihr das«, sage ich müde. »Aber morgen.«
Auf dem Weg ins Bett klopfe ich der Gerechtigkeit halber auch bei Jenny. Sie lehnt am Fenster, raucht eine Zigarette und pustet schnaubend den Rauch in die Nacht. Sie sieht mich müde an, als ich in der Tür stehen bleibe.
»Lass mich lieber in Ruhe«, sagt sie leise. »Ich bin schrecklich ungerecht, wenn ich sauer bin.«
Nicht dass ich das nicht schon erfahren hätte. Ich nicke ihr zu. Und will nur noch ins Bett. Was für ein langer, bescheuerter Tag. Eine Katastrophe nach der anderen.
Ich wollte vorsichtiger sein mit dem Wort Katastrophe. Der Anruf kommt nachts um eins, da bin ich gerade eingeschlafen.
»Ich dachte, weil es doch ein bisschen auch Ihre Patientin ist â¦Â«, sagt eine leise Stimme. Ich weià erst gar nicht, wer in der Leitung ist, mitten in der Nacht. Dann erkenne ich sie. Schwester Hanna. Intensivstation. Frau Klein ist ins Koma gefallen. Die wahren Katastrophen erwischen dich kalt.
D iese Nacht ist die längste meines Lebens. 20 Minuten nach dem Anruf von Schwester Hanna bin ich in der Klinik. Ich habe niemandem Bescheid gesagt. Ich bekomme nichts mit von der Taxifahrt und komme erst wieder zu mir, als ich an Frau Kleins Bett stehe. Es ist ruhig hier. Die notwendigen MaÃnahmen sind eingeleitet worden, alle Geräte laufen. Der diensthabende Arzt hat sich kurz hingelegt; das war der dritte Notfall heute Nacht, wer weiÃ, wann der nächste Alarm kommt. Nur Schwester Hanna ist wach, sie lächelt erschöpft und traurig.
»Soll ich Ihnen einen bequemeren Stuhl bringen?«
Ich schüttle den Kopf. Schwester Hanna geht. Ich weià gar nicht, was ich hier tue. Ich kann nichts ausrichten. Frau Klein weià nicht mal, dass jemand da ist. Ihr Gesicht ist eingefallen, hundert Jahre alt. Reglos. Ich sitze neben Frau Kleins Bett und kann mich nicht rühren. Ich weiÃ, wie es ausgehen wird. Sie wird es nicht schaffen. Sie kann es nicht schaffen. Nur wenige wachen wieder auf. In ihrem Alter ist es eher unwahrscheinlich. Ich muss mich darauf einstellen. Sie stirbt.
Es ist zwei Uhr. Die Station liegt still. Ich denke darüber nach, was ich von Frau Klein weiÃ. Ich sage mir in Gedanken alles vor, als könnte ich sie damit noch eine Weile bei mir halten. Das abgezehrte Gesicht in den weiÃen Kissen war das eines staunenden Kindes, eines verliebten Mädchens, einer energischen Lehrerin. Ich kann mir vorstellen, wie sie lächelte, als sie aus dem Zimmer schlich, in das ihre Schüler sie einsperren wollten. Ein verschmitzteszufriedenes Lächeln â wie als sie mir den Rat gab, mit Isa zum Rummel zu fahren. Sie hat Katzen zu Hause, hat sie gesagt. Wer sich wohl darum kümmert?
Die Geräte summen leise. Es wird drei. DrauÃen ist es ruhig. Keine weiteren Notfälle heute Nacht. Ich denke darüber nach, wie es sein wird, wenn Frau Klein nicht mehr da ist. Ich weià nicht, wie ich das aushalten soll. Wir kennen uns
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