Miss Emergency
noch einmal von vorne an. Du liest jede Seite. Und wenn du hier bist â¦Â«, ich deute auf den allerletzten Satz auf der letzten Seite, »dann redest du mit Jenny über Tom.«
Das Anatomiebuch ist ein richtiger Schinken, mehrere Kilo schwer und die Schrift ist winzig klein. Es könnte die Ruhe vor dem Sturm auf mindestens drei Wochen ausdehnen. In unser aller Interesse.
»Meinst du wirklich?«, fragt Isa. In diesem Moment kommt Jenny aus dem Bad und sieht aus wie ein Model. Aufgemotzt nach allen Regeln der Kunst. Wunderschön. Isa und mir bleibt der Mund offen stehen, eine so perfekte Vorführung von Jennys Stylingkünsten haben wir noch nicht gesehen. Auf die Frage, wo sie in diesem Wahnsinnsaufzug hingeht, lächelt Jenny. »Ich geh mich vom Tagesfrust befreien.« Unsere Begleitung wünscht sie nicht. Aha. Ein Mann.
»Beim Currykarl ist mir eingefallen, wie ich mich perfekt trösten kann.«
Alles klar. Ahnte ich doch, dass sie nicht so zeitig heimgeht, um zu Hause zu bleiben.
Jenny deutet schmunzelnd auf das Anatomiebuch in Isas Arm. »Lernt nicht mehr so viel, Mädels!«
Mann, wenn du wüsstest, was dieses Anatomiebuch uns allen ersparen könnte â¦
»Und wartet nicht auf mich«, grinst sie. »Ich brauch heut ziemlich viel Bestätigung, das dauert vielleicht eine Weile.« Sie wirft uns ein Küsschen zu und flattert aus der Wohnung.
Ich lasse mich auf mein Bett fallen und bleibe liegen wie eine geschlagene Eiche. Wenigstens das Tom-Problem wäre für heute vertagt. Isa sinkt auf meinen Schreibtischstuhl und wiegt das schwere Buch in ihrer Hand. »Meinst du echt, ich soll so lange warten?«
»Vertrau mir«, sage ich.
Endlich nickt Isa. »Wer hätte gedacht, dass ich mal so was mache â¦Â«, sagt sie, setzt sich zu mir ⦠und dann geht es los.
Offenbar hat das Geheimnis sie schwer belastet. Sie erzählt wie ein Wasserfall. Tom ist der Beste, der Klügste, der Netteste. Es stimmt, sie haben sich schon angefreundet, als er unsere Wohnung zusammengebaut hat. Isa kann nicht fassen, dass ein Typ, der Frauen von Jennys Kaliber zur Freundin haben könnte, sich ausgerechnet für sie interessiert. Ich denke bei mir, dass Tom sich nach der Beziehung mit Jenny vielleicht genau so eine wie Isa zur Freundin gewünscht hat. Jedenfalls scheint er nicht Jennys wegen immer wieder hier aufgekreuzt zu sein. Der kleine Teufel in meinem GroÃhirn findet das ziemlich amüsant und ich leiste im Nachhinein Abbitte, weil ich so oft die aussichtslosen Bemühungen des »armen« Tom belächelt habe. Isa verbraucht noch eine Menge adelnder Adjektive. Ich kann nicht die ganze Lobeshymne nachvollziehen ⦠aber irgendwie steckt es an. Bald erweitern wir die Schwärmerei auf Manuel und plötzlich sonnen wir uns beide ein wenig darin, von unseren Freunden zu reden. Wie schön es ist, jemanden zu haben.
Isa drückt meine Hand. »Ist es nicht toll, dass wir BEIDE verliebt sind?«
Mir kommt meine Zuneigung zu Manuel ein wenig â nun ja â erwachsener vor als ihre Begeisterung für Tom, aber recht hat sie trotzdem.
»Nur was machen wir mit der armen Jenny?«, fragt Isa. Verrückt, wie sich die Zeiten ändern, was? Jetzt ist es plötzlich die arme Jenny â¦
Die »arme Jenny« ist es, die in diesem Moment in mein Zimmer platzt. Sie sieht noch immer wunderschön aus. Und sie ist rasend vor Wut. Mit einer furiosen Geste schleudert sie eine Jacke auf das Bett, der entsetzten Isa vor die FüÃe. Das Jäckchen aus dem Kleiderpaket ihrer Mutter. Das Schnappatmungs-Jäckchen. Das sie Isa geschenkt hat.
Was folgt, ist entsetzlich. Jenny ist unfassbar zornig und zu Tode beleidigt. Ich weià nicht, ob es nur darum geht, dass eineher unscheinbares Mädchen wie Isa den Vorzug vor ihr bekommen hat. Geht es um den Verrat? Oder hat sie sich darauf verlassen, jederzeit zu Tom zurückkehren zu können? Wie dem auch sei, Jenny ist auÃer sich. Ich kann mir nur zusammenreimen, dass sie zu ihrer Bestätigungs-Entschädigung Tom ausersehen hatte und in seine Wohnung gefahren ist. Er hat Jenny hereingelassen, aber »unverschämt abweisend« behandelt â und dann hat sie das Jäckchen auf seiner Couch gefunden.
»Unverschämt abweisend« könnte Isa glücklich machen, denn es bedeutet, dass Tom der Versuchung vorbildlich widerstanden hat. Aber
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