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Miss Emergency

Miss Emergency

Titel: Miss Emergency Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Rothe-Liermann
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nur flüchtig. Sie war nicht mal meine Patientin. Nur eine Omi, die ich mochte, die mich mochte. Wie wird es sein, wenn es dein Patient ist? Wenn du einen Fehler gemacht hast? Oder einfach nichts mehr tun kannst? Frau Klein ist 72. Wie wird es sein, wenn es ein Kind ist? Jeden Tag sterben Menschen. Ich sitze am Bett einer alten Frau, die ich erst wenige Wochen kenne. Ich kann es nicht ertragen, sie gehen lassen zu müssen.
    Es ist fast vier. Ich will nicht mehr Ärztin werden. Ich wusste nicht, dass es SO sein würde. Sicher und überheblich habe ich diagnostiziert. Ich wusste alles. Aber ich hatte keine Ahnung, wie es sich anfühlt. Ich glaube nicht, dass ich es kann. Ich werde es nicht aushalten.
    Irgendwann stehe ich auf und verlasse das Zimmer. Ich kann nicht mehr. Langsam gehe ich den Gang hinunter. Irgendwo muss hier ein Aufenthaltsraum sein, in dem es Kaffee gibt. Ich will keinen Kaffee. Ich möchte nur irgendwohin gehen. Und meinen Kopf beschäftigen. In knapp drei Stunden beginnt meine Schicht. Ich könnte nach Hause fahren und duschen. Schlafen kann ich wohl nicht.
    Im Aufenthaltsraum sitzt eine Frau. Sie trägt einen Arztkittel, pustet in eine Kaffeetasse und nickt mir stumm zu. Ich habe sie noch nie gesehen. Ihre Haare sind dunkel, ihre Haut gebräunt. Vielleicht wirkt sie deshalb so warm, trotz des kalten Neonlichts.
    Â»Sind Sie die diensthabende Ärztin?«, frage ich leise.
    Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin nur hier, um auf jemanden aufzupassen.«
    Â»Ich auch«, sage ich. Dann weiß ich nichts mehr.
    Die Ärztin deutet mit einem Nicken auf die blassweiße Sitzgarnitur.Ich setze mich zu ihr. Sie gibt mir einen Kaffeebecher in die Hand. Wir schweigen. Auf dem Schild an ihrem Kittel steht »Dr. Al-Sayed«. Ich habe sie noch nie gesehen. Al-Sayed heißt der Leiter der Gynäkologie, irgendwie hatte ich mir hinter diesem Namen immer einen Mann vorgestellt.
    Vielleicht ist schon eine Viertelstunde vergangen, bevor Dr. Al-Sayed zu sprechen beginnt.
    Â»Eine Patientin von mir liegt hier. Verkehrsunfall. Achter Monat. Wir haben das Kind geholt.« Dr. Al-Sayed spricht ganz beherrscht. Leise. Die Hand, die den Kaffeebecher hält, ist ruhig.
    Â»Was ist mit dem Kind?«, frage ich starr.
    Dr. Al-Sayed lächelt fast unmerklich. »Ein ganz kleines Würmchen. Aber ich glaube, er schafft es.« Und die Mutter? »Ich kann im Moment nichts weiter unternehmen«, sagt Dr. Al-Sayed. »Aber ich will hier sein, wenn sich etwas tut.«
    Ich nicke. Dr. Al-Sayed lächelt mich an. »Komisch, oder? Man schlägt sich hier die Nächte um die Ohren, weil man immer noch insgeheim glaubt, es ginge besser, wenn man in der Nähe bleibt …«
    Ich sehe sie an. »Ich kann das nicht.«
    Als ich einmal angefangen habe, kann ich nicht mehr aufhören. Und irgendwie ist es ganz leicht, der fremden Ärztin alles zu erzählen. Sie hört zu, nippt an ihrem Kaffee, schweigt, bis ich aufhöre zu reden. Dann ist es still. Ich weiß nicht, ob ich zu viel gesagt habe. Es ist mir egal. Dr. Al-Sayed sieht aus dem Fenster. Es dauert lange, bis sie antwortet. Ihre Stimme ist warm, aber ihr Tonfall ist eigentlich nicht mitfühlend, eher sachlich.
    Â»Man muss es aushalten können«, sagt sie. »Du wirst schreckliche Dinge erleben und die Hilflosigkeit ist das Schlimmste. Aber es ist feige, sich zu fragen, ob man es aushalten kann. Du musst dich fragen, ob du es aushalten könntest, nichts zu tun.«
    Ich weiß nichts zu erwidern. Auch Dr. Al-Sayed sagt nichts mehr. Wir sitzen schweigend nebeneinander, bis es draußen hell wird. Dann nickt sie mir zu und geht. Die längste Nacht meines Lebens endet mit einem rotgleißenden Sonnenaufgang.

I ch überstehe den Dienstag. Das ist vielleicht das Wichtigste. Ich bin gar nicht so müde, nicht körperlich erschöpft. Ich fühle mich eher wie in Watte. Als ich morgens auf die Innere hinübergehe, ist alles noch ganz still. Die Nachtschicht hat gleich Feierabend. Schwester Klara ist schon da, verabschiedet die Nachtschwester mit einem Küsschen. Sie lächelt mir zu. Komisch, ich lächle dankbar zurück, obwohl wir doch eigentlich Feinde sind.
    In der Cafeteria riecht es nach Kaffee. Ruben ist schon da. Ich lehne mich an seinen Tresen, er schiebt mir einen Kaffee hin.
    Â»ITS?«, fragt er leise.
    Ich nicke. Wie gut, dass er immer schon alles weiß. Ruben bereitet das

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