Miss Emergency
Nacht auf der Intensivstation verbringen. Aber ich will noch ein wenig bei Frau Klein sein. Jenny hält mich auf dem Gang auf, sie ist auf dem Heimweg und möchte mich mitnehmen. Als sie hört, dass ich noch zu Frau Klein will, fragt sie, ob sie mitgehen kann. Erst bin ich gerührt. Dann sagt sie »Nur wir beide«. Ich schüttle den Kopf und behaupte, ich würde nur ganz kurz vorbeigehen. Warum schaffe ich es nicht, zu sagen, dass ich mich nicht zwischen Jennyund Isa entscheiden möchte? Dass ich am liebsten erst nach Hause zurückkommen würde, wenn die Sache zwischen ihnen ausgestanden ist ⦠Jenny geht, ich weià nicht, ob sie ein wenig beleidigt ist â und es kümmert mich gar nicht so sehr.
Auf der ITS kommt Schwester Hanna gerade zum Dienst; sie hat die ganze Woche Nachtschicht und freut sich, mich zu sehen. Gemeinsam schauen wir die Tagesberichte durch. Bei Frau Klein keine Veränderung. Dafür sticht mir etwas anderes ins Auge. Ein Patient hat den Vermerk »ex«. Dahinter steht »09:25«. Hanna atmet tief durch, als sie es entdeckt, ihr Mund zittert, dann weint sie. Einfach so, lautlos. Ich denke nach. Um 9 Uhr 25 habe ich gerade den Patienten mit der Anämie aufgenommen. Niemand hat den Atem angehalten. Eine Station weiter habe ich nichts davon gespürt, dass hier ein Leben zu Ende ging. Schwester Hanna wischt sich die Augen und sagt: »An solchen Tagen denke ich immer, ich schaff es nicht.« Sie lächelt entschuldigend. Ich kann nicht anders, ich muss sie kurz in den Arm nehmen. Ich bin nicht wie die kaltblütige Dr. Ross, der gelassene Dr. Thalheim. Ich umarme die kleine Schwester Hanna, weil sie noch so zartbesaitet fühlt wie ich und weil ich sonst auch heulen muss.
In Frau Kleins Zimmer merke ich schnell, dass ich es nur schwer aushalte, schon wieder hier zu sitzen. Ich möchte etwas tun. Mich nicht schon wieder dem Gedankenkarrussel ausliefern. Hoffentlich war es nicht Dr. Al-Sayeds Patientin, die gestorben ist. Der Gedanke an ihr Kind lässt mich heulen. Ich sitze an Frau Kleins Bett und der Schmerz der ganzen Welt drückt in das nüchterne ITS-Zimmer.
Im Film würde mir jetzt die rettende Lösung einfallen. Einfach so. Die lebensrettende Idee, auf die keiner der gestandenen Ãrzte gekommen ist. Im Leben gibt es das nicht. Hier wird nichts wieder gut, bloà weil es gerecht wäre. Da bleibt manchmal nur heulen.
Die Tür öffnet sich. Ich könnte nur wenige Menschen nennen, die ich jetzt gerne bei mir gehabt hätte â aber einen, den ich auf keinen Fall sehen möchte. Dr. Thalheim. Er kommt herein,tritt an Frau Kleins Bett, überprüft die Geräte. Er sagt nichts. Ich wische mir die Tränen vom Gesicht. Dr. Thalheim bleibt neben mir stehen.
»Wollen Sie mir sagen, warum Sie weinen?«
Völlig klar, was habe ich von einem so gefühllosen Klotz erwartet. Ich schäme mich nicht. Es ist normal, dass man heulen muss. Ich weine über eine Mutter, die vielleicht gestorben ist. Dass ich es nicht genau weiÃ, ändert nichts. Ich weine darüber, dass es passiert. Dass Mütter sterben. Aber ich bringe es nicht über mich, das zu sagen. Wahrscheinlich würde ich dann noch mehr losheulen. Ich sage etwas anderes, das auch stimmt. »Ich bin nur müde.«
Dr. Thalheim nickt. Er bleibt stehen. Warum geht er nicht einfach wieder raus? »Ich möchte nicht, dass Sie schon wieder hier übernachten«, sagt er schlieÃlich. »Irgendwann wird das sicher nötig sein, jetzt ist es das nicht.« Er klingt entschlossen. Was geht ihn das an? Ich sehe nicht mal auf. Dr. Thalheim berührt meinen Arm. Plötzlich ist seine Stimme sanft. »Sie müssen sich ausruhen. Morgen ist Ihre Fallvorstellung, die dürfen Sie nicht verderben. Ich lasse Sie informieren, wenn sich was tut.«
Ganz langsam dringt das zu meinem Gehirn durch. Es stimmt, morgen bin ich mit der Fallvorstellung dran. Ich habe noch nichts dafür getan. Nur deshalb stehe ich auf. Auf dem Gang ist Dr. Thalheim wieder neben mir. »Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause.«
Vor einer Woche noch hätte ich alles darum gegeben. Heute sitze ich neben dem Oberarzt im Auto; er schaltet das Radio ein, er fragt, wo ich wohne, er ist nur wenige Zentimeter entfernt â und ich bin vollkommen gleichgültig. Wir fahren schweigend. Ich bin so müde, dass ich mich sehr konzentrieren muss, wenn ich nicht
Weitere Kostenlose Bücher