Miss Emergency
hier auf Dr. Thalheims Beifahrersitz einschlafen will. Irgendwann, vor unendlich langer Zeit, hätte ich diese Idee perfekt gefunden und mich vielleicht sogar getraut. Heute sitze ich sehr gerade, damit mir nicht die Augen zufallen. Dr. Thalheim bremst vor unserem Haus. Ich öffne die Tür, als er die Hand ausstrecktund mich am Arm berührt. Er sieht mich an, seine Augen sind dunkel. »Es tut mir leid«, sagt er. Dann steige ich aus. Ich weià nicht, was er gemeint hat.
Ich verbringe den Abend mit der Fallbesprechung. Die Müdigkeit macht eine konzentrierte Vorbereitung schwer, immer wieder schlafe ich über meinen Notizen ein. Mehrfach weckt mich das Telefon aus dem Sekundenschlaf. Es klingelt immer wieder. Ist denn sonst niemand da?! Irgendwann stehe ich genervt auf und nehme ab. Es ist Tom. Er möchte Isa sprechen. Er ruft schon den ganzen Abend an.
»Sie ist nicht da«, sage ich müde.
»Doch«, antwortet Tom, »sie ist zu Hause. Sie will mich nur nicht sprechen.«
Ich lege den Hörer hin und öffne Isas Tür. Sie ist da. Sie sitzt auf dem Bett. Einfach nur so.
»Tom ist am Telefon«, sage ich müde.
Isa schüttelt den Kopf. Ich denke einen Moment darüber nach, einfach wieder in mein Zimmer zu gehen und den Hörer neben dem Telefon liegen zu lassen. Aber nur einen Moment. Dann gehe ich zurück und sage Tom, dass Isa ihn nicht sprechen will. Und dass es nichts nutzt, einfach immer weiter anzurufen.
Mitten in der Nacht werde ich wach. Das Gedankenkarussell. Noch vor einer Woche war ich glücklich und ganz euphorisch über mein neues Leben. Plötzlich ist alles wie eingefroren. Vielleicht sollte ich am Wochenende mal nach Hause fahren. Ich habe Manuel nicht angerufen. Morgen. Aber erst einmal muss ich den Mittwoch überstehen.
A m Morgen ist mein Kopf schwer, als hätte ich seit Tagen nicht geschlafen. Unser Frühstück ist jämmerlich trist; wortlos gehen wir mit unseren Kaffeetassen aneinander vorbei, niemand setzt sich. Es tut mir weh, zu sehen, wie Isa und Jenny einander ausweichen, kein Blick zwischen ihnen. Auf der S-Bahnfahrt sehe ich aus dem Fenster. Warum regnet es nie, wenn man sich danach fühlt? Aber die Morgen werden schon diesig, bald kommt der Herbst.
Als wir vor dem Aufzug warten, um in die Innere hinaufzufahren, sagt Isa endlich den ersten Satz des Tages. »Ich treffe ihn nicht mehr.« Nur das. Sie schaut zu Boden dabei.
Ich warte, sehe Jenny an. Jenny macht kehrt und nimmt die Treppe nach oben. Wie soll ich das nur aushalten? »Das wird schon wieder«, sage ich hilflos zu Isa. »Lass ihr Zeit!«
Isa sieht mich nicht an. »Ich treffe ihn nicht mehr«, wiederholt sie leise.
Nichts kann heute meine Stimmung heben. Und die Tage, an denen das nicht aus gestiegenem Aufmerksamkeitsbedürfnis vorgetäuscht, sondern wirklich wahr ist, sind gemeinerweise die, an denen Dinge passieren, für die man sich sonst ein Bein ausreiÃen würde. Zum Beispiel, dass einen der Oberarzt beim Mittagessen anspricht. In der Cafeteria. Vor allen Leuten. Und zwar nicht, um eine Anordnung zu treffen und nicht, um das Salz auszuborgen. Sondern aus purer Freundlichkeit.
»Wie geht es Ihnen?«, fragt er.
Gut. Du hast mich heimgefahren und nimmst mich wahr. Ich könnte mich endlich dort angekommen fühlen, wo ich die ganze Zeit hinwollte. Schlecht. Denn dort ist plötzlich überhaupt nichts mehr so, wie ich es mir vorgestellt habe. Oder kenne. Oder ertragen kann. Ich nicke also nur.
»Ist Ihre Fallbesprechung fertig?«, fragt er.
Ich nicke wieder. Super Unterhaltung. Was hast du dir nicht alles erträumt, wie klug und verständig du den Oberarzt beplaudern wolltest, sobald sich die Gelegenheit ergibt?! Und jetzt ist an Beeindrucken nicht zu denken. Und, noch schlimmer, es ist mir gerade ganz egal.
»Sie haben auf der ITS jederzeit Zutritt«, sagt er etwas leiser. »Ich habe Bescheid gesagt, dass Sie die Patientenakte einsehen können.«
Ich weià im Moment nicht, wofür das gut sein soll. Aber ich bedanke mich.
Dr. Thalheim lächelt. »Viel Glück für heute Nachmittag.« Dann geht er.
Ich sehe ihm gedankenverloren nach ⦠und bemerke endlich die Blicke der anderen PJler. Sie sagen ganz deutlich, dass noch niemals, niemals ein Oberarzt an ihrem Mittagstisch stehen blieb, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Dr. Thalheim hat mich eben vor allen geadelt. Und
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