Miss Emergency, Band 4: Miss Emergency , Operation Glücksstern (German Edition)
Lerngruppe Lena. Ganz allein auf weiter Flur.
S chon seit einer Woche gehe ich jeden Morgen mit klopfendem Herzen zum Briefkasten; es schlägt immer schneller, je näher ich ihm komme und steigert sich bis zum Herzrasen, wenn ich ihn öffne. Jeden Tag hat es länger gedauert, bis sich mein Puls angesichts der Werbezettel, Rechnungen und Urlaubskarten normalisierte. Heute ist er noch nicht da, durchatmen.
Es ist idiotisch. Denn der Brief wird kommen. Und ich MÖCHTE doch in die Mündliche. Außerdem weiß man, sobald man den Brief geöffnet hat, in welchem Fach die vierte Prüfung stattfinden wird und kann endlich mit der letzten Lernphase anfangen. Aber je eher der Brief kommt, desto eher findet die Mündliche statt. Und ich hab das Gefühl, noch nicht mal ausreichend auf die Schriftliche vorbereitet zu sein.
Jenny ist erst gestern an die Arbeit zurückgekehrt. Wir haben sie gezwungen. Nach vier Tagen hat Isa ihr ein Buch nach dem anderen auf die Bettdecke gelegt.
»Du versaust dir jetzt nicht auch noch den Rest«, hat sie in ihrer neuen schwangerschaftshormongesteuerten Direktheit gesagt, die mich immer wieder bass erstaunt. »Es kann sein, dass du in deinem Leben noch 50 Freunde haben wirst. Oder Felix in einem Jahr zu dir zurückkommt. Aber dein Beruf ist etwas für alle Zeiten. Das verzeihst du dir nie.«
Jenny glaubt nicht, dass sie noch 50 andere Freunde haben wird. Oder will. Trotzdem hat sie wenigstens wieder angefangen, zu lernen. Wenn auch langsam. Sie liest Mündliche Prüfung, Band 4 , aber ich weiß nicht, wie oft sie eine Seite lesen muss, um den Stoff zu verinnerlichen. Sie hat noch lange nicht die Kraft, sich wieder richtig zu konzentrieren. Und nicht mal einen Bruchteil des Verlorenen aufgeholt.
Deswegen wünsche ich mir jeden Tag, der gelbe Brief möge noch nicht heute kommen. Ich habe alle Treppenhaus-Orakel benutzt, jeden Morgen ein anderes. Wenn mir niemand entgegenkommt, ist der Brief heute noch nicht da. Wenn ich es schaffe, einen Absatz von mindestens fünf Stufen mit einem Satz herunterzuspringen, ohne zu stolpern, werde ich noch einen Tag verschont. Wenn im ersten Stock ein Kasten mit leeren Flaschen vor einer Wohnungstür steht, ist es heute noch nicht so weit. (Das klingt schwer erfüllbar, ist aber ein wenig gemogelt. Denn der alte Herr stellt immer am Dienstag sein Leergut vor die Tür, damit der Nachbar von gegenüber es entsorgt. Die Tochter des Alten, die jeden Mittwoch kommt, soll nämlich nicht sehen, was ihr Vater die Woche über getrunken hat.)
Heute habe ich das Schicksal mit einer akrobatischen Variante des Begegnung-Orakels herausgefordert – ich werde auf einem Bein bis nach unten hüpfen. Falls mich einer der Nachbarn dabei sieht, ist der Brief heute da. (Ich könnte es auch einfach davon abhängig machen, ob mir überhaupt jemand im Treppenhaus begegnet. Aber ich wähle Auf einem Bein hüpfen, um für das Schicksal die Hemmschwelle zu erhöhen. Es wird sich vielleicht zweimal überlegen, ob es mir jemanden entgegenschickt – wenn es mich damit derart blamiert … Das hoffe ich zumindest.)
Ich hopse tapfer, es ist ganz schön anstrengend, Absatz für Absatz hinunter. Zweimal stolpere ich, setze aber beide Male pflichtschuldig an der verpassten Stufe wieder ein. Keine Frage, dass ich trotzdem so schnell hüpfe wie nur möglich. Man kann dem Schicksal ja ein wenig entgegenkommen.
In der ersten Etage sieht mich jemand mit großen Augen an. Ein kleiner Hund. Er sitzt vor der Tür des Leergutentsorgers und wartet auf sein Herrchen, das sich noch in der Wohnung zu schaffen macht und nicht zu sehen ist. So schnell ich kann, hüpfeich an dem verwirrten Vierbeiner vorbei. Nur noch einen Absatz. Gilt das jetzt – oder nicht? Habe ich explizit Mensch gesagt? Oder jemand?
Fahrig öffne ich den Briefkasten. Und da ist er: Der erste gelbe Brief. Die erste förmliche Einladung zur mündlichen Prüfung. Adressiert an Isa. Das Schicksal ist ein raffinierter Fuchs.
Isa öffnet den Brief recht gelassen. Klar, sie hat ja nicht vor, zu der Prüfung hinzugehen. Es ist also eher eine Konjunktiv-Neugier: Was WÄRE es gewesen? Hätte ich das gekonnt?
Sie hätte. Ihre vierte Prüfung ist Pädiatrie. »Fast schade«, lächelt sie. Es ist ein Fach, das sie immer gernhatte.
Wir können diese Steilvorlage natürlich nicht ungenutzt lassen und versuchen mithilfe des Die Mündliche hättest du damit schon mal im Sack -Arguments noch einmal, Isa doch zum Examensantritt zu überreden. Sie
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