Miss Emergency
ich glaube, ich stand noch eine ganze Minute reglos auf der kalten Straße. Das Licht der Laternen im Herbstnebel zauberte eine unwirkliche Traumlandstimmung. Kann das tatsächlich passiert sein? Und was bedeutet das jetzt?
Ich stehe in unserer Küche, als sei ich eben aus einer ganz anderen Zeit, einem ganz anderen Leben hierherversetzt worden. Mein Gesicht spiegelt sich in der Glastür des Geschirrschranks und ich sehe geradewegs in ein idiotisches Grinsen. Verdammt, Lena, das Spiegelbild in der Küchenschrankscheibe weiß es längst. Du kannst nichts leugnen, was man dir so überdeutlich ansieht. Du bist hemmungslos verliebt. Endlich. Leider.
Denn als mein Gehirn ganz langsam wieder anfängt zu arbeiten, ist der erste Gedanke: Das darf niemand erfahren! Eines ist ja wohl absolut klar geworden: Thalheim findet es ganz falsch. Tobias. Er sagt mir, dass der Kuss ein schrecklicher Fehler war, der ihm entsetzlich leidtut – und dann küsst er mich wieder. Tut es ihm jetzt noch mehr leid? Aber warum eigentlich? Ich habeja nicht auf der Straße gekniet und um den Kuss gebettelt! Das war doch ganz eindeutig seine Initiative! Aber klar, ich kann es mir denken: Er ist Oberarzt, ich bin PJlerin. Wenn man es ganz genau nimmt, bin ich nicht mehr explizit seine Schutzbefohlene, immerhin unterstehe ich jetzt Dr. Thiersch. Trotzdem. Ich kann mir denken, was im Krankenhaus geredet wird, kann mir das sensationslüsterne Getratsche der Schwestern, das empörte Kopfschütteln der Ärzte vorstellen. Nicht nur, dass es für Dr. Tobias Thalheim – bisher der Inbegriff von Souveränität und Distanz – unerträglich wäre, wenn die ganze Klinik weiß, was zwischen uns passiert ist. Auch für mich ist es wahrscheinlich eher von Nachteil. Mag es auch aus Neid geboren sein: der Flurtratsch wird einer PJlerin, die einen Oberarzt knutscht, mindestens Berechnung unterstellen! Aber wenn ich niemandem davon erzähle und wenn es mir gelingt, bis morgen dieses verräterische, verliebte Grinsen zu verstecken … Wenn wir im Krankenhaus kühl und nichtssagend aneinander vorbeigehen … Haben wir dann etwas miteinander?
Ich bin völlig durcheinander und die Chance, dass er morgen wieder auf mich wartet, um zu sagen, dass dieser zweite Kuss noch viel falscher war und das nun wirklich, wirklich nie wieder passieren dürfe, scheint um einiges höher, als dass wir unauffällige Codes vereinbaren und uns im Schutz der Dunkelheit an geheimen Orten treffen. Tut mir leid: So romantisch das klingt – Dr. Thalheim ist definitiv nicht der Mann für so etwas. Aber wenn alles derart aussichtslos scheint, warum grinst das Gesicht in der Scheibe immer noch so idiotisch verliebt?
Schlüsselklappern an der Wohnungstür, meine Freundinnen kommen heim. Jetzt kochst du Tee, Lena, und probierst einfach mal aus, zu wie viel Geheimniskrämerei du in der Lage wärst, falls es rein zufällig irgendwann für die Tarnung einer heimlichen Liebschaft gefragt wäre. Ich wende mich dem Wasserkocher zu, hinter mir öffnet sich die Küchentür, meine Freundinnen umgibt eine Aura frischer kalter Luft; na klar, SIE hat ja niemand im warmen Auto nach Hause gefahren. Nicht umdrehen, Lena, ichwette, du glühst immer noch. Ich stelle drei Tassen auf das Bord. Meine Freundinnen haben noch nichts gesagt – warum nicht?
»Lena …« Jennys Stimme klingt wie die meiner Mama, wenn sie mich an der Süßigkeitenschublade erwischt hat. »Schau mich mal an!«
Ich drehe mich um. Isa und Jenny sind beide noch in Jacke, Schal und Mütze und sehen mich an, als versuchte ich, den Übergriff auf die Naschwerksschublade zu leugnen, während ich knietief im Schokoladenpapier stehe. Jenny stemmt die Hände in die Hüften. »Ihr habt geknutscht!«
Was für eine Erleichterung, endlich darüber reden zu können! Die zweiminütige Geheimhaltung hat mich schon völlig kribbelig werden lassen. Fünf Minuten später sitzen wir in der warmen Küche bei rosafarbenem Sekt. (Den ich natürlich nur geöffnet habe, um unseren ersten Tag in der Chirurgie zu feiern, mit Tobias hat das gar nichts zu tun!) Trotzdem ist er heute Abend fast unser einziges Thema. Ich kann mir denken, wie unangenehm ihm das wäre. (Tja, dann soll er keine PJlerinnen küssen!) Überhaupt haben meine Freundinnen sich noch nicht ganz damit abgefunden, dass der abweisende, immer überlegene Dr. Thalheim das getan hat. Wer weiß besser als ich, dass es zu ihm passt wie ein Indianer-Regentanz auf dem Petersplatz zum sechzehnten
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