Miss Emergency
erlaube mir ein wenig Träumerei und überlege, wen von den heute Vormittag besuchten Patienten ich gerne operieren würde. (Verzeihung, Dr. Thiersch! ASSISTENZoperieren.) Die Bauchspeicheldrüse ist vergeben, die Galle auch. Aber der Leistenbruch …?
Auf Zimmer 4 liegt Frau Jahn mit dem Meniskusriss, eine Dame um die vierzig, die das teuerste und eleganteste Krankenhausnachthemd trägt, das ich je gesehen habe. Auf ihrem Nachttisch hat sie stapelweise Bücher und einen Block, in den sie sich eben Notizen macht, als ich zur Blutdruckkontrolle komme. Der Blutdruck ist ziemlich hoch; noch nicht besorgniserregend, aber doch höher als bei Bettruhe und Kliniklangeweile zu erwarten wäre. Ich werfe einen Blick ins Krankenblatt. Frau Jahn bekommt bereits blutdrucksenkende Mittel. Habe ich mich getäuscht unddie so gelassen wirkende Dame hat doch Angst vor der OP? Ich sprech es mal sensibel an, immerhin bin ich inzwischen fast Profi. Doch als ich ihr beruhigend die Gefahrlosigkeit einer Arthroskopie erkläre, zieht Frau Jahn die Augenbrauen bis zum Haaransatz und schüttelt den Kopf: »Keine Sorge, ich habe nicht mehr Angst vor der OP als Sie.«
Hmpf. Da sie offenbar nicht weiß, dass ich eine Anfängerin ohne jede OP-Erfahrung bin, funktioniert ihr Gleichnis nicht GANZ so gut. Oder gerade.
»Ihr Blutdruck ist ziemlich hoch«, erkläre ich. »Haben Sie sonst irgendwie Stress?«
Frau Jahn schüttelt den Kopf. »Was soll einen denn HIER stressen?!« Stimmt. Du bist ja nur Patientin, musst dich nicht vor der ganzen Station beweisen und bist nicht in einen Oberarzt verliebt, der sich ausgesprochen unberechenbar verhält. Also wenn du keine OP-Angst und vollstes Vertrauen in eine wie mich hast … Ihr Stift zuckt nervös über dem Block. »Ist sonst noch was?« Will sie mich los sein? Ich gönne ihr nur ein halbes Lächeln und wende meinen Wagen, als mir einfällt, woher ich den Gesichtsausdruck kenne. Von Isa. Wenn meine strebsame Mitbewohnerin so aussieht, steht irgendeine Prüfung an. Isa würde uns nie um Ruhe oder Rücksicht bitten; doch wenn sie mich mit so einem Blick ansieht, drehe ich automatisch die Musik leiser oder die Stimmlautstärke herunter, denn der Blick sagt »Bitte, bitte, bitte, ich habe die wichtigste weltrettungsentscheidende Arbeit zu erledigen und es läuft gerade GAR NICHT GUT!« Die Kombination aus fühlbarer Nervosität, Schreibblock und zitterndem Stift macht mich misstrauisch. Schreibt sie ihr Testament? Hat sie gerade eine Aufstellung ihrer Schulden vor sich? (Immer diese teuren Nachthemden – hat der Schönheitswahn sie ruiniert?)
»Was schreiben Sie denn da?«, frage ich Frau Jahn, die ihren Fineliner verstimmt um die feinmanikürten Finger kreisen lässt. Wenn es physisch möglich wäre, würden die Augenbrauen bei diesem empörten Blick in ihrer Frisur verschwinden.
»Ich mache mir Notizen zu meiner Nachttisch-Literatur. Sehr interessante Bücher.« Natürlich. So was tun gebildete Menschen. Typisch Lena, erst mal zur Inquisition zu schreiten. Der »Ich schaff meine Arbeit nicht«-Blick kann genauso gut »Eine Möchtegern-Ärztin stört meine spannende Lektüre« heißen. Der Blutdruck-Wert kann von allem Möglichen kommen. Salzhaltiges Essen, Harndrang, Wetterfühligkeit. Ich werde ihn später noch einmal kontrollieren. Ich entschuldige mich, wünsche weiterhin spannende Lektüre und schiebe den Wagen ins nächste Zimmer.
Als die Mittagspause heranrückt, habe ich das Gefühl, schon völlig auf der Chirurgiestation angekommen zu sein; ich bringe meinen Wagen zum Schwesternzimmer zurück und melde der Pflegedienstleiterin, dass ich bestens zurechtgekommen bin. Schwester Jana erklärt gutmütig, sie habe nichts anderes erwartet, nennt mich Mäuschen und ihr Lächeln lässt die Punktwertung für die Chirurgie in meinem inneren Stationen-Ranking bis ans Ende der Skala schnipsen. (Kategorie Pflegepersonal: Innere 0 – Chirurgie 100.) Kein Vergleich mit der mürrischen, ärztehassenden Schwester Karla, der es nur darum ging, uns Anfängerinnen bloßzustellen. Schwester Jana hat so was nicht nötig. Schmunzelnd erklärt sie, dass sie mich heute nicht an der Essensausgabe beteiligen darf – offenbar hat Dr. Gode auch bei ihr die strikte Trennung von Arzt- und Schwesternaufgaben angemahnt –, ich aber dafür vorzeitig in die Mittagspause gehen könnte. »Und falls es Pudding gibt … Ich komme sicher erst in einer Stunde zum Essen.« Ich verspreche, bei Ruben die Zurückhaltung einer
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