Miss Emergency
Puddingportion durchzusetzen und gehe nach unten.
Ein Spiegel im Fahrstuhl wäre schön. Ich weiß, für die Passagiere eines Klinikaufzugs ist kaum ein Fahrt-Anlass denkbar, bei dem man sich gerne spiegeln möchte. Aber ich könnte einen brauchen. Immerhin steht mir (hoffentlich!) gleich eine Begegnung bevor, für die es hilfreich sein könnte, zu wissen, ob die Frisur gerade hinterhältig entgleist ist oder die Wimperntusche sich im Eifer des Gefechts unter den Augen festgefressen hat. In Lübeck habe ich Make-up als Bonus betrachtet und nur zur Selbstbewusstseinsaufwertungoder zu Partys getragen. In Berlin habe ich mir ein Arbeits-Grund-Make-up angewöhnt. Ich weiß nicht, ob das von Jenny abgefärbt hat, die sich ungeschminkt gar nicht als vollständig empfindet, oder ob ich als Neuberlinerin immer noch Bedarf an künstlicher Selbstwerterhöhung habe. Woran ich mich allerdings noch nicht gewöhnt habe, ist, dass man sich als geschminkte Frau nicht mehr sorglos im Gesicht rumfuhrwerken sollte. Ich kann nicht zählen, wie oft ich mir nachdenklich oder müde die Augen reibe und erst hinterher daran denke, dass ich mir jetzt einen schönen schwarzen Krümelrand unter die Augen gewischt habe. (Komisch, Jenny passiert das nie!) Dann jedes Mal in den Spiegel zu schauen, provoziert ein Tussenimage, das ich nicht haben will – aber das Mäuslein mit der verschmierten Tusche zu sein, ist ja keineswegs besser. Ich kann jedenfalls nicht garantieren, dass ich mir heute NICHT unbewusst die Augen gewischt habe und würde gern einen Kontrollblick in eine spiegelnde Fläche werfen … als der Aufzug plingt und ich im unteren Gang stehe. 30 Meter bis zur Cafeteria. Wird er da sein? Oder ist die vorzeitige Mittagspause überhaupt kein Segen, weil er noch gar nicht mit mir rechnet? Und: Hast Du es echt nötig, jetzt noch mal im Waschraum dein Erscheinungsbild zu überprüfen? Ich beschließe, dass ich ja nicht explizit für Dr. Tobias Thalheim hübsch sein möchte, sondern eine junge Ärztin generell einen gepflegten Eindruck machen sollte. Und stelle im altbekannten Waschraum fest, dass alles in Ordnung und die junge Ärztin im Bestzustand ist. Etwas rot im Gesicht, aber dagegen kann man jetzt nichts mehr tun. Als ich die Waschraumtür öffne, zittern meine Hände. Echt, Lena? So schlimm ist es? Pah! Du MUSST ja nicht in die Cafeteria gehen … Bleib doch hier und verbummel die Mittagspause im Damenklo, nur in Gesellschaft deiner zitternden Hände und deiner pubertären Albernheit! Das hilft, ich gehe.
In der Cafeteria ist noch wenig Betrieb. Ich geselle mich an den Tresen zu Ruben, meinem blauhaarigen, holländischen Koch-Freund. »ER« ist noch nicht da. Umso besser. Wenn mannicht weiß, welche Haltung dem anderen für eine anstehende Begegnung vorschwebt, ist es auf jeden Fall günstig, als Erster da zu sein und ebenjenen anderen auf sich zukommen zu lassen. Ich stelle mich also locker an den Tresen. Ruben hat Zeit zum Quatschen und zu seinen blauen Haaren eine gelbe Krawatte um, die auch gleich ein unverfängliches Gesprächsthema bietet. Ruben hat nämlich die beängstigende Fähigkeit, zielgenau zu erspüren, was einen beschäftigt – und was man gerade gar nicht besprechen möchte … Trotzdem (oder eben deswegen?) habe ich Ruben schrecklich gern.
»Schöne Farbkombination«, grinse ich also, um das Gespräch gleich in ungefährliche Bahnen zu lenken, und schnappe mir einen Apfel aus dem Körbchen auf seinem Tresen. »Liberal geworden?«
»Ich lass mich doch nicht von Politik in meiner modischen Entfaltung beschränken!«, grinst Ruben abfällig. »Außerdem ignorierst du meine weiße Schürze – diese Dreier-Farbkombination ist natürlich eine Anspielung auf die Flagge der Provinz Limburg.« Aha, na klar. »Und du?«, grinst er. »Wartest du auf ihn?«
Oh, Mann, warum habe ich es nicht gewusst? »Auf WEN?«, frage ich unschuldig – aber einen Moment zu spät.
Er lacht. »Findest du nicht, dass es besser für alle Seiten wäre, wenn du nicht dauernd versuchst, mir was vorzumachen? Wir könnten schneller zum Wesentlichen kommen – und dich interessiert es doch wohl auch viel mehr, über IHN zu sprechen.«
Ich seufze und gebe mich geschlagen. »Woher weißt du es?«
Ruben verzieht mitfühlend das Gesicht. »Um ehrlich zu sein: von dir. Dein Abgang gestern wirkte so melodramatisch enttäuscht, dass in meinem inneren iPod sofort ein Tori-Amos-Song anlief.«
Mir bleibt kurz der Apfel im Hals stecken.
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