Miss Emergency
könnten wir uns einfach weiterhin alle zwei Tage treffen und einfach nur küssen. Oder alle zwei Stunden.
Es wird dunkel. In einer Pfütze am Fuß der kleinen Treppe liegt ein Weinkorken. Ich beobachte ihn, bis die Pfütze so tief ist, dass er schwimmt. Und stelle mir vor, dass es jetzt weiterregnet, bis auch ich den Bodenhalt verliere und auf einer Pfütze treibe. Ich könnte mich als toter Mann bis nach Hause treiben lassen. Tote Lena. Über das grüne Auto schwimmt sie einfach so hinweg.
Thalheim kommt nicht. Und es regnet immer weiter.
D ie Liebe ist einfach nicht normal. Oder ich bin nicht normal. (Nett, dass du an dem Wort »Liebe« überhaupt nicht zweifelst, Lena!) Im einen Moment bin ich schon entschlossen zu gehen. Ich warte auf keinen Fall die halbe Nacht auf einen Oberarzt, der offenbar oben noch seine Computertastatur mit dem Zahnstocher reinigt, nur um Zeit zu schinden. Im nächsten Moment gestehe ich mir ein, dass ich sehr wohl bis zum Morgengrauen warten würde. Obwohl mir kalt ist. Aber solange ich hier bleibe, besteht immerhin noch die Chance, dass wir uns sehen – und wenn es zum Sonnenaufgang ist.
Ich bemühe sogar das gute alte Orakel: Wenn jetzt drei Männer nacheinander rauskommen, heißt das, es gibt genug Männer auf der Welt und ich soll gehen. Aber als drei Männer nacheinander die Klinik verlassen, beschummle ich mich selbst und zähle einen eigentlich noch ganz rüstigen Opi einfach nicht als Mann. Und dann, ganz plötzlich, legt mir jemand die Hand auf die Schulter, eine weiche Stimme sagt: »Bitte verzeih mir« und alles ist vergessen.
Zehn Sekunden später sitze ich in seinem Wagen, umgeben von dem Geruch nach Leder und seinem Aftershave. Er fährt schweigend vom Parkplatz, sieht nur kurz zu mir herüber und lächelt – und mir ist nicht mehr kalt. »Der Chef«, sagt er. »Es ist mir noch nie so schwergefallen, ihm zuzuhören. Ich dachte die ganze Zeit nur daran, dass du wahrscheinlich in dieser Sekunde aufgibst und gehst.«
Wow. Das haut mich fast um. Tut mir leid, da bin ich Mädchen. Ich habe noch nie etwas so liebevoll Vertrauliches von ihm gehört.
Leider hat Dr. Thalheim wohl auch gemerkt, dass das jetzt erstaunlich gefühlvoll klang. Er räuspert sich und sagt erst mal eine Weile nichts mehr. Mann, er weiß doch inzwischen, wie erschreckend kurz der Weg zu meiner Wohnung ist! Wie viel Zeit will er sich denn lassen? Mich beschleicht das Gefühl, dass er einfach nicht weiß, wie er anfangen soll – und das ist ja immer ein schlechtes Zeichen. Soll ich also? (Ich könnte ja mal sagen, dass das alles nur an den Neurohormonen liegt. Und man dagegen leider gar nichts tun kann …)
»Lena, das geht nicht«, sagt er in diesem Moment, ohne mich anzusehen. Mir bleibt die aufmunternde Hormonbemerkung im Hals stecken.
Danke, Herr Oberarzt. Diese kalte Dusche hatte ich ja heute erst einmal. Und ich hatte mich fast davon erholt. Schlagartig friere ich wieder. Warum hat er mich nicht für alle Zeiten im Regen auf dem Parkplatz stehen lassen? Er hat sich nicht mal eine neue, etwas freundlichere Formulierung ausgedacht. Und in spätestens einer Minute erreichen wir meine Straße – und sind keinen Schritt weitergekommen. Nur einen großen Satz näher an eine Erkältung und ein fieses Gefühlstief. Dann steige ich jetzt aus, gehe den Rest des Weges zu Fuß, so langsam ich kann, und hole mir wenigstens eine richtige Grippe. Gerade als ich ihm das mitteilen will, fährt er rechts ran.
»Ich kann das nicht«, sagt er leise. Ich will aussteigen. Sobald du draußen im Regen stehst, darfst du anfangen zu heulen, Lena. Nur jetzt noch nicht. Er sieht mich an. Bitte noch nicht weinen, Lena!
»Ich bin nicht der Typ für so was. Es würde gegen all meine moralischen Prinzipien verstoßen.« Seine Stimme klingt ruhig. »Etwas zwischen uns könnte immer nur heimlich sein. Und das will ich nicht.« Ach so, das will er nicht? Das konnte ich ja nicht ahnen. Na dann Entschuldigung. Oh Mann, zerr doch deinenEiskratzer aus dem Handschuhfach und ramm ihn mir ins Herz!
Offenbar hat wieder jemand meine Gedanken laut ausgesprochen, denn er sieht mich an und lächelt traurig. »So meine ich es nicht, Lena. Es geht nicht um mich. Ich fände es deinetwegen falsch.« Quatsch! Um MICH sollte man sich sorgen, wenn er mich jetzt hier abserviert. Hatte ich nicht erwähnt, dass ich dann eine Woche im Regen stehen bleiben werde?
Er nimmt meine Hand. »Es wäre nicht fair dir gegenüber. Verstehst du nicht,
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