Miss Emergency
Patientenbogen nicht die geringste Chance hat, seine unschuldige Version unserer Begegnung glaubhaft zu machen.
Sicherheitshalber gehe ich nicht in die Cafeteria, die Pause ist sowieso gleich um. Die verbleibenden zehn Minuten brauche ich wohl mindestens, um mich und meine Mimik wieder in den Griff zu kriegen. Hab ich Angst vor dem Gespräch heute Abend? Oder freue ich mich ganz kurzsichtig einfach darauf, ihn zu sehen? Um sieben macht er Feierabend, wir treffen uns auf dem Parkplatz. Nicht im Krankenhaus, natürlich nicht. Es könnte ja wieder eine Horde Klinikpersonal vorbeimarschieren. Er hat nicht gesagt, dass ich auf dem Parkplatz stehen und unauffällig auf ihn warten soll. Nur, dass er mich gerne nach Hause bringen würde, damit wir in Ruhe reden können. Ich muss an unsere letzte gemeinsame Heimfahrt denken. Haben wir uns jetzt zu SO WAS verabredet?
Ich nehme die Treppe nach oben, um einen Moment für mich zu sein. Doch – Irrtum – das Treppenhaus ist schon vergeben. Vom unteren Absatz höre ich ein vertrautes Lachen, über das Geländer ist ein mir bestens bekannter Lockenkopf zu sehen. Jenny. »Ruf doch mal an«, sagt sie. »Vielleicht bin ich ja zu Hause.«
Eine sehr nette Männerstimme versichert, er werde es auf jeden Fall versuchen. Heute Abend um acht. »Dann hast du noch genug Zeit zum Umziehen, bevor ich dich um halb neun abhole.« Na der hat es ja eilig. Leider kann ich den Mann nicht sehen, wenn ich mich nicht lebensgefährlich weit über das Geländer hängen will. Jenny verabschiedet sich mit der Warnung, er möge sich nicht ZU sicher sein, dass sie nicht einfach nur sein Motorrad kennenlernen möchte; der Fremde kontert, sein Motorrad habe keine Geheimnisse vor ihm und er teile gern. Jennylacht, dann stolziert sie nach oben. Ich warte auf sie und werfe doch noch einen Blick über das Geländer. Aber mehr als einen dunklen Kopf und einen tätowierten Arm gibt es von Jennys Neubekanntschaft leider nicht zu sehen. Dafür biegt jetzt meine strahlende Freundin um die Treppenkurve.
»Super, dass du hier bist«, grinst sie überrascht und beugt sich bedenklich weit über das Geländer. »Schau mal, was ich gefunden hab!«
Ich gebe zu, dass ich es schon versucht habe, es aber außer einem Tattoo nichts zu sehen gab. Jenny winkt ab. »Macht nichts, du kriegst ihn ja heute Abend in voller Schönheit zu sehen.« Sie ist doch immer wieder erstaunlich.
»Wegen des Motorrads?«, frage ich spöttisch, doch Jenny ist weder beleidigt noch findet sie es ungehörig, dass ich gelauscht habe.
»Ein Motorrad ist doch nicht zu verachten«, lacht sie.
»Und der schmucke Björn?«, frage ich. »Bist du nicht heute mit IHM verabredet?«
Jenny sieht mich schulmeisterlich an. »Ein breitschultriger Abenteurer mit Motorrad, Lena! Da muss man Kompromisse machen!« Sie sieht auf die Uhr und findet, dass wir nicht den Fehler machen sollten, zu zeitig zurück zur Arbeit zu kommen. Stattdessen nutzt sie den Pausenrest für eine heimliche Zigarette – und sie will endlich wissen, wie »unser Plan« funktioniert hat. Ich lächle unschuldig und zeige den Patienten-Ausdruck in meiner Hand. »Alles gut, ich hab Paulas Unterlagen.« Jenny ist sprachlos. Und dann bricht alles aus mir heraus. Ich erzähle von den Küssen – und dem seltsamen Ende wegen Schwesterngetrappels.
»Herrlich aufregend«, jubelt Jenny. »Und? Habt ihr euch endlich verabredet?«
Was soll man sagen? Wir sind verabredet. Wir sehen uns nachher. Das klingt toll. Aber ich ahne, was er mir sagen will. Dass es nicht noch mal passieren soll.
Jenny tröstet mich mit ihrem typischen Optimismus, sie behauptet,dass er mir einfach nicht widerstehen kann, sonst hätte mich der sonst so beherrschte Doktor doch nicht schon wieder geküsst. Ihrer Meinung nach wäre das Schlimmste, was mir passieren kann, dass es auf eine heimliche Affäre hinausläuft. Und das findet Jenny fabelhaft romantisch. Ich beschließe, mich vorerst ihrer positiven Denkweise anzuschließen – zumindest, bis mich jemand vom Gegenteil überzeugt.
Zurück auf der Chirurgie erwartet uns eine sehr neugierige Schwester Jana. »Und?«, grinst sie Jenny an. »Zu viel versprochen?« Jenny bestätigt, dass der neue Laborassistent genau nach ihrem Geschmack ist. Schwester Jana findet das großartig. Aufgeregt kneift sie Jenny in die Seite. »Erzähl mir alles!«
Doch Jenny schüttelt den Kopf. »Na hör mal«, lacht sie, »hast du nicht gesagt, du bist zu alt für eine Arbeitsplatzaffäre?
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