Miss Emergency
krallen würde, um eine besondere OP zu bekommen, aber er lächelt ein wenig und erklärt, was ich Anständigkeit nenne, könnte bei anderen als Naivität durchgehen. Ich überlege kurz, ob ich gekränkt sein sollte. Aber er sieht mich ernst an und sagt: »Lass dir das nicht wieder wegnehmen, Lena! Lass dir nicht einreden, jemand anders könnte es besser oder habe es mehr verdient. Du wirst keine gute Ärztin, wenn du zu bescheiden bist.« Der kleine beleidigte Teufel, der das Wort »Naivität« übel nehmen wollte, kriecht beschämt in seine Höhle zurück.
Das Essen ist richtig gut. Damit habe ich nicht gerechnet. Aber mein Kompliment winkt Tobias beiseite und behauptet, er könne genau dieses eine Gericht. War ihm das jetzt unangenehm? Irgendwie kenne ich mich doch immer noch nicht richtig aus bei ihm.
»Was möchtest du?«, fragt er nach dem Essen.
Ich weiß nicht, was sagt man denn da? Will er wissen, ob ich hier übernachte? Das weiß ich doch selbst noch nicht … Er wartet, ich überlege, und kurz bevor es seltsam wird, fragt jemand mit meiner Stimme: »Können wir den Kamin anmachen?«
Tobias lacht. »Ehrlich gesagt, der war noch nie an. Aber versuchen können wir’s.« Das kann ich ja wohl nicht glauben! Hat einen riesigen Kamin im Wohnzimmer und ihn noch nie benutzt?!
»Seit wann wohnst du hier?«, frage ich. Er zuckt die Achseln. »Vier Jahre?«
»Du spinnst, Herr Oberarzt!«, antworte ich fassungslos.
Es gibt selbstverständlich kein Feuerholz in dieser Wohnung und Tobias’ Bereitschaft, noch einmal loszufahren, hält sich – ebenfalls verständlich – ziemlich in Grenzen. Aber ich wünsche mir das Feuer einfach dreist als Gegenleistung für die Rückgabe der Thermotasse, die immer noch in meiner Handtasche vergraben ist.
»Dir werde ich wohl nie wieder etwas leihen können!«, seufztTobias, aber er zieht seine Jacke wieder an. Und der gemeinsame Spaziergang durch den Restschneematsch zur Tankstelle ist fast ebenso schön wie das Feuer, das wir später in mehreren Anläufen und mit heftiger Rauchentwicklung in Gang setzen. Als es endlich brennt, ist das Zimmer ziemlich verqualmt, aber ich will nicht klein beigeben und bin entschlossen, das Feuer schön zu finden und zu verteidigen, bis ich blau anlaufe.
»Deine Tapferkeit ist entzückend, Lena«, sagt Tobias irgendwann, »aber so geht es nicht. Ich will dich nicht grau und japsend hier raustragen müssen.« Er öffnet das Fenster, ich bin enttäuscht.
»Da will man einmal im Leben romantisch am Feuer sitzen …«, jammere ich bemüht kläglich vor mich hin.
Tobias sieht mich an und seufzt. »Na gut, du trauriges Entlein«, sagt er lieb und verschwindet im Schlafzimmer – um kurz darauf sein gesamtes schickgraues Bettzeug auf dem Boden vor dem Kamin auszubreiten. Den Rest des Abends sitzen wir in dem Deckenberg vor dem offenen Feuer, während die kalte Schneeluft zum Fenster hereinströmt. Eine seltsame Mischung aus Dekadenz und Lagerfeuerromantik, wundervoll. Die ganze Stadt ist im Laufe des Tages grau und vermatscht geworden, doch auf dem Balkon vor unserem Lager strahlt der Schnee noch unberührt weiß.
W ieder ein Morgen, an dem ich erst kurz vor dem Arbeitsaufbruch zu Hause ankomme – mit latent schlechtem Gewissen. Noch vor einer Stunde hatte ich fest geplant, wenigstens zum Frühstück da zu sein. Meine Freundinnen aber sind allerliebst und behaupten, meine Abtrünnigkeit nicht übel zu nehmen. »Wir sind doch froh, dass wenigstens eine von uns glücklich verliebt ist«, sagt Isa – das ist jedoch nicht gerade der beste Weg, meine Gewissensbisse zu beruhigen.
Zum Glück widerspricht Jenny dieser pessimistischen Einschätzung; seit sie sich gestern Abend mit Paula ausgesprochen hat, ist sie wieder glänzender Laune. Sie bekräftigt, dass sie auch »angenehm zufrieden verliebt« sei, nur eben doppelt. »Ich schwöre euch«, erklärt sie mit der ureigenen Jenny-Logik, »wenn ich mich für einen entscheiden müsste, würden mir beide nur noch halb so gut gefallen!« Dass das ziemlich unfair ist, will sie nicht hören, so einfühlsam Isa ihr auch ins Gewissen redet. »Na weißt du, DU solltest die Vorteilhaftigkeit einer Doppelbeziehung doch gerade nachvollziehen können!«, lacht Jenny. »Wenn von MEINEN Freunden einer wegziehen will, habe ich immerhin noch den anderen.«
Meine Freundinnen wollen alles über den Abend bei Tobias wissen und ich tue nichts lieber, als ausführlich zu berichten. Die Geschichte vom unbenutzten
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