Miss Lily verliert ihr Herz
Kinder vor so vielen Menschen singen zu lassen?“
„Doch.“ Sie runzelte die Stirn. „Aber ich persönlich habe seine Bedenken nicht verstanden.“
„Mein Bruder hat sehr viel Erfahrung mit den Mitgliedern der guten Gesellschaft und ihrem Verhalten. Wenn er fürchtet, etwas könne schiefgehen, dann sollten Sie seine Sorgen ernst nehmen.“
„Sie wissen, dass ich in diesem Fall nicht berechtigt bin, eine Entscheidung zu treffen.“
„Sie können zumindest versuchen, die anderen zur Vernunft zu bringen.“ Er hatte die Lider gesenkt, und dennoch war Lily, als schaue er zutiefst besorgt drein. „Ich erinnere mich übrigens noch gut an den Wohltätigkeitsball der Ashfords. Für Charles’ Gattin Sophie war es ein schrecklicher Abend. Sie hat sehr gelitten.“ Erneut räusperte er sich. „Ich möchte nicht, dass Sie Ähnliches durchleben müssen, Miss Beecham.“
Seine Sorge rührte sie und weckte eine Hoffnung, die sie längst begraben geglaubt hatte. „Soweit ich weiß, kann man die beiden Bälle nicht miteinander vergleichen. Damals handelte es sich um einen Maskenball, nicht wahr? So etwas hat Minerva ja nicht geplant. Bei ihr wird es viel ruhiger und besonnener zugehen.“
„Trotzdem …“, beharrte Jack und machte einen Schritt auf Lily zu.
Einen Moment lang überlegte sie, ob sie die Treppe wieder hinabsteigen sollte. Doch dann hörte sie, wie Jack fortfuhr: „Ich habe in meinem Leben manch harte Lektion lernen müssen. Es ist nicht gut, wenn man sich auf fremdes Terrain begibt. Waisenkinder haben in Ballsälen nichts zu suchen. Fromme Eiferer fühlen sich in der Gesellschaft leichtlebiger Damen und Herren nicht wohl. Unerwartete Probleme tauchen auf, wenn Menschen zusammentreffen, die nicht zusammenpassen. Glauben Sie mir: Was Sie vorhaben, ist gefährlich! Sie wollen nicht nur unschuldige Kinder mit zynischen Erwachsenen zusammenbringen, sondern auch wohlmeinende Vertreter der Reformbewegung mit arroganten Adligen!“
„Sie sehen das falsch!“, gab Lily erzürnt zurück.
„Wohl kaum!“
„Auf jeden Fall bauen Sie Hindernisse auf, wo keine sind.“
„Nein, Miss Beecham, das tue ich nicht. Sie hingegen sind auf dem besten Wege, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Sie wollen nicht einmal einen guten Rat annehmen!“ Seine Stimme klang zornig und enttäuscht zugleich. „Bitte, den ken Sie wenigstens noch einmal gründlich über alles nach! Ist Ihnen die Gästeliste bekannt? Sind Sie den Menschen, die den Ball besuchen werden, schon einmal irgendwo begegnet? Können Sie deren Verhalten richtig einschätzen? Bitte, Lily, seien Sie vernünftig! Ich kenne die Mitglieder der so genannten guten Gesellschaft. Viele von ihnen sind eitel, oberflächlich, boshaft und dumm. Wollen Sie Ihre Freunde aus den Reihen der christlichen Reformer wirklich mit solchen Leuten bekannt machen?“
Sie hob das Kinn. „Sie könnten ruhig versuchen, etwas zuversichtlicher zu sein. Ich persönlich denke, dass zwei so unterschiedliche Gruppen viel voneinander lernen können.“
„Lernen? Ha! Sie haben mir einmal gesagt, dass Sie sich oft fremd fühlen, wenn Sie sich auf dem gesellschaftlichen Parkett bewegen. Dabei sind Sie eine für alles Neue offene, liebenswerte und tolerante junge Dame. Wohingegen einige dieser Reformer wahrscheinlich ziemlich engstirnig sind. Denken Sie nur an Mr. Cooperage! Was glauben Sie, wie er sich gegenüber Mitgliedern der Aristokratie benehmen wird? Er wird ihnen ihre echten oder vermeintlichen Sünden vorwerfen.“ Jack schaute Lily eindringlich an. „Und umgekehrt werden die vornehmen Gäste Mr. Cooperage und seinesgleichen für schreckliche Langweiler und überhebliche Moralapostel halten.“
Lily fühlte, wie Jacks Bedenken ihren Optimismus dämpften. Hatte er womöglich recht? „Ihre Mutter“, sagte sie, „und Miss Dawson sowie viele andere Menschen haben sehr hart gearbeitet, um Leute zu finden, die bereit sind, den Waisenkindern zu helfen. Dadurch sind ungewöhnliche Freundschaften entstanden. Und das ist gut so! Ein gemeinsames Ziel kann Wunder wirken! Es kann dazu beitragen, dass gesellschaftliche Abgründe überbrückt werden. Himmel, ich weiß wirklich nicht, warum Sie immer das Schlimmste erwarten!“
„Sie tun mir Unrecht“, gab er gekränkt zurück.
„Nein“, widersprach Lily. „Nein, ich sage nur die Wahrheit! Sie sind ein Miesepeter. Und ständig bauen Sie Mauern auf. Wenn Sie behaupten, es ginge Ihnen darum, mich vor Enttäuschungen zu bewahren, dann
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