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Miss Lily verliert ihr Herz

Miss Lily verliert ihr Herz

Titel: Miss Lily verliert ihr Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DEB MARLOWE
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Jack?
    Jack war, nachdem Minerva sein Tête-à-tête mit Lily unterbrochen hatte, in der Bibliothek zurückgeblieben. Eine Zeit lang schritt er unruhig auf und ab, bemüht, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen.
    Was hatte er bloß getan! Er hatte Lily Dinge anvertraut, über die er noch nie mit einem anderen Menschen gesprochen hatte. Das war schlimm. Aber schlimmer war, dass er sich ganz und gar nicht wie ein Gentleman benommen hatte. Er hatte jede Selbstbeherrschung verloren und Lily an Stellen geküsst und gestreichelt, die er nie hätte berühren dürfen. Welche Schlüsse würde sie daraus ziehen? Welche Hoffnungen würde sie sich machen?
    Ach, verflucht! Er hatte es zugelassen, dass sie seine Verteidigungsmauer einfach überrannte. Er hatte es zugelassen, dass er sich von seinem Gefühl statt von seinem Verstand leiten ließ. Nun fragte er sich, welchen Preis er dafür würde zahlen müssen.
    Noch immer war er nicht in der Lage, klar zu denken. Sein Inneres befand sich in einem nie gekannten Aufruhr. Verzweifelt bemühte er sich, zu jenem Zustand zurückzufinden, den er für normal hielt. Vergeblich …
    Schließlich hatte er sich so weit gefasst, dass er es wagte, sich wieder unter die anderen Gäste zu mischen. Von einem Lakai ließ er sich ein Glas Wein geben. Wenig später trank er schon das zweite. Doch der Alkohol half ihm nicht, seine innere Ruhe zurückzugewinnen.
    Irgendwann wurde ihm klar, dass der Zorn fort war, den er jahrelang gegenüber der ganzen Welt empfunden hatte. Hätte er sich da nicht besser fühlen müssen? Bei Jupiter, es war unerträglich! Er kam sich verletzlich vor, schutzlos und gleichzeitig hemmungslos. Ein gefährlicher Zustand! Er brauchte noch ein Glas Wein oder besser ein Glas Cognac.
    Einige Zeit später gesellte Charles sich zu ihm, schlug ihm freundschaftlich auf den Rücken und begann über irgendetwas zu reden. Jack nickte hin und wieder, murmelte mal ein Ja, mal ein Hm. Aber tatsächlich hörte er nichts von dem, was sein Bruder sagte. Ich bin verloren, dachte er, ich brauche einen Anker, ich brauche Lily.
    Er sah sich suchend nach ihr um und stellte fest, dass die meisten der Gäste den Ballsaal verließen und in eine bestimmte Richtung strebten. Ach ja, die Gesangsvorführung! Im Musikzimmer würde er auch Lily finden. Gut!
    Ohne es zu bemerken, stieß er einen lauten Seufzer der Erleichterung aus, als er sie dann wirklich sah. Sie saß am Klavier und machten einen heiteren Eindruck. Und sie war schön, so wunderschön! Ja, er brauchte sie. Sie hatte seine Mauern zerstört und ihn schutzlos zurückgelassen. War es nicht ihre Pflicht, ihm jetzt zu Hilfe zu kommen?
    Da ihm klar war, dass er das Ende der Aufführung abwarten musste, ließ er sich auf einen Stuhl sinken. Wenig später hatte er seinen Kummer vergessen. Der Gesang der Mädchen war so rein, die Klavierbegleitung so harmonisch, die Lieder waren so gut ausgewählt, dass selbst ein zutiefst verunsicherter Mensch wie er sich in den Melodien verlieren konnte.
    Dann verklang der letzte Ton, die Zuhörer klatschten und begannen miteinander über das Schicksal der Waisenkinder und den mangelhaften Brandschutz in London zu reden. Lily stand mit leuchtenden Augen bei den Mädchen. Jack fiel ein, mit welcher Begeisterung sie die Idee verteidigt hatte, die Kinder auf Minervas Verlobungsball singen zu lassen. Sie war davon überzeugt gewesen, dass sie dadurch weitere Helfer und Helferinnen finden würde, Menschen, die sich genau wie sie selbst für das Wohl der Waisen einsetzen würden. Sie hatte das Beste von den Anwesenden erwartet. Und sie hatte recht behalten. Während er mit dem Schlimmsten gerechnet hatte.
    Widerstrebend gestand er sich ein, dass es unerwartet angenehm war, sich geirrt zu haben. Himmel, er empfand sogar einen gewissen Stolz auf Lily und ihren Erfolg. Auch hoffte er, dass das Schicksal der Waisen sich wirklich zum Guten wenden würde. Es war seltsam: Nachdem er seiner wilden Begierde und seiner Sehnsucht nach Lily nachgegeben hatte, schienen auch andere Gefühle sich nicht mehr verdrängen zu lassen.
    In diesem Moment entstand Unruhe im Raum. Mrs. Whitcomb, Minervas boshafte Tante, zog Mr. Dawson durch die Menschenmenge nach vorn zur Bühne. „Und nun, Bruder“, hörte Jack sie sagen, „wirst du ihnen mitteilen, was passiert ist. Dann werden alle erkennen, dass ich von Anfang an recht hatte.“
    Mrs. Dawson eilte herbei. „Was ist los, Lucinda?“, wollte sie wissen.
    „Jetzt ist es

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