Miss Lily verliert ihr Herz
Whitcomb daraufhin seiner Gattin die Hand auf den Arm und sagte: „Vielleicht hat sie recht. Die Unschuldigen müssen geschützt werden, nicht wahr? Ich werde die Kleinen nach oben bringen.“ Dabei musterte er die Mädchen mit lüsternen Blicken.
„O nein!“ Endlich hatte Jack die Streitenden erreicht. „Diese Kinder werden auf keinen Fall mit Ihnen gehen. Miss Beecham wird sie nach oben begleiten.“
„Und ich“, fiel Mrs. Bartleigh ein. „Wir haben …“ Sie unterbrach sich und begann, leicht zu schwanken. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Dann brach sie zusammen.
Lily gelang es, sie aufzufangen, ehe ihr Kopf auf den Boden aufschlug.
„Gehen wir, Lucinda“, entschied Mr. Whitcomb. „Wie es aussieht, wird London bald von einem Mitglied der Reformbewegung befreit sein.“
Das war zu viel für Jack. Er holte aus, verpasste dem Mann einen schmerzhaften Kinnhaken und wollte erneut zuschlagen.
„Jack, nein!“, rief jemand.
Lily! Er hielt inne.
„Bitte“, sagte sie jetzt leiser, „holen Sie Mr. Bartleigh!“
Jack machte sich sofort auf den Weg.
11. KAPITEL
Vor der Tür zu Mrs. Bartleighs Krankenzimmer stand ein unbequemer Stuhl. Wie so oft während der letzten Tage hatte Lily darauf Platz genommen. Sie wartete darauf, dass der Arzt die tägliche Untersuchung abschließen würde.
Anfangs hatte der Doktor nicht damit gerechnet, dass die alte Dame noch mehr als ein paar Stunden zu leben hatte. Doch zu seiner Überraschung überstand sie die Nacht. Und inzwischen schien sie sich sogar ein wenig erholt zu haben.
Niemand hätte dafür dankbarer sein können als Lily. Sie hatte sich so viel von Minervas Verlobungsball versprochen. Sie hatte so fest daran geglaubt, dass das Fest ein Erfolg werden würde. Sie war bitter enttäuscht worden. Doch immerhin war nicht das Schlimmste eingetreten. Ihre alte Freundin Mrs. Bartleigh lebte noch, Minervas guter Ruf war nicht nachhaltig beschädigt worden, und die Waisen hatten nicht mit zusätzlichen Problemen zu kämpfen.
Am Tag nach dem Ball waren in allen Londoner Zeitungen Karikaturen der Ereignisse veröffentlicht worden. Es hatte Flugblätter und sogar ein paar großformatige Plakate zu dem Durcheinander auf dem Fest gegeben. Minerva hatte nur darüber gelacht. Ihren Verlobungsball würde man bald vergessen, hatte sie gesagt, das neue Waisenhaus aber würde in fünfzig Jahren noch seinen Dienst erfüllen.
Mrs. Whitcomb hatte sich zwar alle Mühe gegeben, die skandalösen Vorfälle aufzubauschen, und insbesondere versucht, Jack Alden und Lily Beecham zu schaden. Aber sie hatte die Reaktion der Londoner falsch eingeschätzt. Ein Skandal? Ein Feuer? Elternlose Kinder in Not? Die Kombination genügte, um so ziemlich jeden auf die Situation der Waisen aufmerksam zu machen. Viele Mitglieder der guten Gesellschaft ließen sich von dem Schicksal der Kleinen rühren. Einige spendeten beachtliche Geldbeträge, andere erboten sich, ehrenamtlich tätig zu werden.
Ein Verein wurde gegründet, der sich um die Belange der Kinder und um das Waisenhaus selbst kümmern wollte. Lady Dayle übernahm den Posten der Vorsitzenden. Das wiederum bewog die Duchess of Charmouth, einen ungewöhnlichen Vertrag mit dem Verein zu schließen. In Anwesenheit vieler Zeugen wurde schriftlich festgelegt, dass die Duchess mehrere Jahre lang auf die Pachteinnahmen aus einem ihrer kleineren Landgüter verzichtete. Das Geld sollte dem Verein zur Verfügung stehen.
Staunend hatte Lily beobachtet, mit welcher Geschwindigkeit sich alles entwickelte. Das Glück der Waisen, fand sie, war es wert, dass man persönliche Opfer brachte. Der Preis, den sie selbst bezahlen musste, war allerdings hoch. Ihr Leben hatte sich erneut grundlegend gewandelt. Beinahe hätte sie eine alte Freundin verloren. Und ihre Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft mit Jack war zerstört worden.
Nachdem er in jener Nacht Mr. Bartleigh geholt hatte, war er verschwunden. In der Öffentlichkeit hatte er sich seitdem nicht mehr blicken lassen. Wahrscheinlich habe er sich wieder einmal in seinem Junggesellenquartier eingeschlossen, meinte sein Bruder Charles. Das konnte nur eines bedeuten, wie Lily sehr wohl wusste: Jack hatte sich erneut vor ihr und der Welt zurückgezogen und seine Mauern aufgerichtet. Solange er niemanden an sich heranließ, glaubte er sich in Sicherheit.
Welch eine Enttäuschung! Sein Verhalten hatte Lily zutiefst getroffen. Verständlicherweise fühlte sie sich zurückgestoßen. Aber sie sah
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