Miss Lily verliert ihr Herz
durchaus, dass Jacks Rückzug auch eine Chance war, ihre eigene Situation einmal möglichst vernünftig zu betrachten. Da sie sich so heftig von Jack angezogen gefühlt hatte, war es ihr während der letzten Tage schwergefallen, nicht nur auf ihr Herz zu hören.
Was diese vernünftige Betrachtung ihr gezeigt hatte, war schockierend gewesen. Jahrelang habe ich versucht, meiner Mutter alles recht zu machen, weil ich mir wünscht, von ihr geliebt zu werden, wurde Lily klar. Ihre Bemühungen waren vergeblich gewesen. Nicht etwa, weil Mama mich für ir gendetwas strafen will, sondern weil sie einfach unfähig ist, meine Gefühle zu erwidern. Und nun begann dieses Muster sich in ihrer Beziehung zu Jack zu wiederholen! Das durfte nicht sein!
Lily schrak aus ihren Gedanken auf, als die Tür des Krankenzimmers geöffnet wurde und Mr. Bartleigh zusammen mit dem Arzt herauskam.
„Wie schön, dass Sie noch hier sind, Lily“, sagte der alte Herr. „Dr. Olmer meint, meine Gattin könne die Heimreise wagen, wenn wir täglich nur kleine Etappen zurücklegen und eine bequeme gut gefederte Kutsche wählen.“
„Ich habe auch gesagt“, fiel der Arzt ein, „dass ich die Reise trotzdem nicht empfehlen kann. Es ist erstaunlich, welche Fortschritte Mrs. Bartleighs Genesung gemacht hat. Ich freue mich sehr darüber. Aber wir dürfen nicht vergessen, welche Anstrengung eine Reise selbst für gesunde Menschen bedeutet.“
Mr. Bartleigh nickte. „Wir sind uns über die Risiken und die Strapazen des Unternehmens im Klaren. Aber haben Sie uns nicht schon bei unserem ersten Besuch in Ihrer Praxis erklärt, dass die Tage meiner Gattin gezählt sind?“
Dr. Olmer nickte bestätigend.
„Nun ist es der größte Wunsch meiner Anna, noch einmal die frische Luft von Dorset zu atmen. Ich möchte ihr diese Bitte nicht abschlagen.“
„Ich verstehe Sie.“ Der Arzt legte beruhigend die Hand auf Mr. Bartleighs Arm. „Doch bedenken Sie, dass Mrs. Bartleigh zwar einen starken Willen, aber einen sehr geschwächten Körper hat. Achten Sie darauf, dass sie sich nicht zu viel zumutet.“
Tränen traten Lily in die Augen. Sie schluckte. Dann hörte sie Mr. Bartleigh sagen: „Sie könnten mir einen großen Gefallen tun, Lily. Leisten Sie meiner Gattin Gesellschaft, bis ich zurück bin. Ich will mich auf die Suche nach einer geeigneten Kutsche machen.“
„Natürlich. Wann wollen Sie abreisen?“
„Morgen früh.“ Er nickte ihr noch einmal zu und begleitete den Arzt dann hinaus.
Lily fuhr sich mit der Hand über die Augen, straffte die Schultern und betrat mit einem Lächeln das Krankenzimmer.
Es wurde bereits Abend, als Lily nach Dayle House zurückkam. Sie hatte lange darüber nachgedacht, ob sie mit den Bartleighs nach Dorset reisen sollte. Noch hatte sie keine Entscheidung getroffen. Aber es gab einiges, was dafür sprach, dass sie London den Rücken kehrte. Mrs. Bartleigh und ihr Gatte würden für jede Hilfe dankbar sein. In der Stadt hingegen werde ich kaum noch gebraucht, dachte Lily. Lady Dayle war mit der Erledigung ihrer Aufgaben im Zusammenhang mit dem neuen Waisenhaus so beschäftigt, dass sie sie kaum vermissen würde. Minerva steckte bis zum Hals in Hochzeitsvorbereitungen. Jack hatte sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen. Was also hielt sie in London?
Einen Grund gab es, die Stadt nicht zu verlassen: In den nächsten Tagen wurde ihre Mutter aus Kent zurückerwartet. Sie würde fest damit rechnen, sie in Dayle House vorzufinden. Muss ich also hier auf Mama warten?, fragte Lily sich.
Fisher, der sie ins Haus gelassen hatte, riss sie aus ihren Grübeleien. „Ich hoffe, es geht der alten Dame besser“, sagte er.
„Danke. Mrs. Bartleighs Genesung macht tatsächlich Fortschritte.“
„Das freut mich.“ Fisher nahm ihr den Umhang ab. „Sie haben eine Nachricht erhalten, Miss. Der Bote meinte, es sei eilig.“
Lily nahm den Brief entgegen und runzelte die Stirn. Im ersten Moment hatte sie angenommen, ihre Mutter habe geschrieben, um ihre Rückkehr anzukündigen. Doch das war nicht deren Handschrift.
Lilys Herz schlug plötzlich schneller. „Danke, Fisher.“ Schon eilte sie die Treppe hinauf. Die Tür zu ihrem Zimmer schloss sie sorgfältig hinter sich. Dann erst brach sie das Siegel.
Der Brief war kurz und enthielt weder Datum noch Absender.
Ich brauche Deine Hilfe und bin auf dem Weg zu Dir.
„O Gott!“ Sie starrte die wenigen Worte an. Dann presste sie das Schreiben an die Brust. Matthew! Er hatte ihr die
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