Miss Lily verliert ihr Herz
Entscheidung abgenommen. Er war auf dem Weg nach Dorset, um sie zu treffen. Also würde sie London verlassen.
Lily warf den Brief auf den Tisch, riss die Tür des Kleiderschranks auf und begann zu packen.
Zum ersten Mal in seinem Leben war Jack Alden unzufrieden mit seiner selbst gewählten Einsamkeit. Ein paar Tage lang hatte er sich damit beschäftigt, seine Junggesellenwohnung aufzuräumen. Gleichzeitig hatte er versucht, Ordnung in seine wirren Gedanken und Gefühle zu bringen. Letzteres war ihm nur unvollkommen gelungen. Noch immer spürte er Scham, und sein Gewissen quälte ihn.
Dabei bereute er nicht im Geringsten, dass er Whitcomb einen Kinnhaken verpasst hatte. Im Gegenteil, er hätte ihn gern noch einmal niedergeschlagen. Der Mann war eine regelrechte Plage. Immer wieder tauchte er auf, um eine Entschuldigung und die Übernahme der Arztkosten zu verlangen. Arztkosten, ha! Jack weigerte sich, auch nur ein Wort mit Whitcomb zu reden.
Schließlich hatte der sich an Charles gewandt. Doch auch bei ihm erreichte er sein Ziel nicht. Auf irgendwelchen Wegen gelang es Charles stets, unerfreuliche Einzelheiten über unangenehme Menschen herauszufinden. Bei Whitcombs zweitem Besuch erwähnte er wie nebenbei seine Bekanntschaft mit einem Reporter der Zeitung ‚The Augur‘, der gerade an einer Serie über die schlechte Behandlung von Dienstboten durch ihre Herrschaften arbeitete.
„Ach?“, meinte Jack, als Charles ihm von diesem Gespräch berichtete. „Dann gibt es wohl im Haushalt der Whitcombs besonders viele schwangere Dienstmädchen?“
„Es gibt viele erschreckend junge Dienstmädchen“, hatte sein Bruder erklärt. „Auf jeden Fall war es Whitcomb wohl lieber, kein böses Wort mehr über dich, deine Familie und deine Freunde zu verlieren, als auf der Titelseite des ‚Augur‘ erwähnt zu werden. Außerdem hat er sich bereit erklärt, die jungen Mädchen gegen erfahrene Dienstboten auszutauschen. Mama wird dafür sorgen, dass die Entlassenen rasch andere Stellungen finden.“
„Gut!“
Charles nickte und trat zu einem der Bücherregale. Nachdem er einige der Buchtitel gelesen hatte, sagte er, ohne sich umzuwenden: „Es ist noch nicht lange her, Jack, dass ich mich in einer ähnlichen Situation befand wie jetzt du. Ich weiß, dass es nicht immer leicht ist herauszufinden, was man wirklich will.“ Er hörte, wie sein Bruder tief Luft holte, trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Du musst eine Entscheidung bezüglich deiner Zukunft treffen. Wenn du dir über deine Wünsche klar geworden bist, werde ich dir helfen. Du sollst bekommen, was du dir erträumst.“
Jack hatte plötzlich einen Kloß im Hals. „Danke“, murmelte er.
Lange schritt er vor dem Bücherregal auf und ab, nachdem Charles sich verabschiedet hatte. Er war zutiefst beunruhigt. Seit er angeschossen worden war, schien in seinem bis dahin so geordneten Leben alles drunter und drüber zu gehen. Es war, als habe der Schuss nicht nur seinen Arm, sondern auch seinen Verstand verletzt. Warum sonst war es auf einmal nicht mehr möglich, all diese unerwünschten Gefühle im Zaum zu halten?
Er seufzte. Das, was in jener Nacht im Museum begonnen hatte, war von Lily Beecham weitergeführt worden. Sie hatte die Mauern niedergerissen, die er zu seinem Schutz errichtet hatte. Nun fühlte er sich schutzlos. Doch es ging nicht nur um all das, was von außen auf ihn einstürmte. Er hatte erkennen müssen, dass in ihm etwas schlummerte, was er nicht hatte hinauslassen wollen. Jetzt drängte es an die Oberfläche. Und es gab keine Mauer, die es einschloss.
So sehr er sich auch dagegen wehrte, er konnte nicht länger die Augen vor dem verschließen, was in seinem Inneren vorging. Da waren zum einen die sanften Gefühle, die einen Menschen verletzlich machten. Zum anderen gab es aber auch Schadenfreude, Überheblichkeit, Machtgelüste – Empfindungen, die er verabscheute, weil sie ihn an seinen Vater erinnerten. Wie sehr hatte er als Kind darunter gelitten, dass es ihm unmöglich gewesen war, seinen Vater zufriedenzustellen, und dass er dafür mit Verachtung, Ablehnung und Schlägen gestraft worden war. Jack stieß einen Fluch aus. In dem Moment, da er Whitcomb niedergeschlagen hatte, war er – daran zweifelte er nicht – von genau den gleichen Empfindungen erfüllt gewesen wie einst sein liebloser Vater.
Werde ich wie er?, fragte er sich. Aber tatsächlich wollte er die Antwort darauf gar nicht wissen.
Er ließ sich in einen
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