Miss Lily verliert ihr Herz
Sessel sinken und schloss die Augen. Fest stand, dass die Begegnung mit Lily dazu geführt hatte, dass er nun eine Entscheidung bezüglich seiner Zukunft treffen musste. Er war an einem Scheideweg angekommen. Würde er weiterhin das ruhige Dasein des Wissenschaftlers führen, der sich für die Vergangenheit mehr interessierte als für die Gegenwart? Oder würde er all seinen Mut zusammennehmen und sich auf das Abenteuer des wahren Lebens einlassen?
Vor einem Monat noch hätte sein Verstand ihm eine logische, von Gefühlen unbeeinflusste Antwort geliefert. Doch jetzt war alles anders. Er, der sich früher nie einsam gefühlt hatte, ertrug es nicht mehr, allein zu sein. Sicher, er liebte seine Bücher. Aber er wollte mehr.
In diesem Augenblick begriff er, dass es keinen Weg zurück gab.
Er öffnete die Augen und beschloss auszugehen. Er würde Lily besuchen. Denn schließlich war sie für sein Dilemma verantwortlich. War es da nicht ihre Pflicht, ihm in seinem neuen Leben zur Seite zu stehen?
In aller Eile kleidete er sich an, warf einen kurzen Blick in den Spiegel, riss die Tür zum Flur auf – und wäre beinahe mit einem uniformierten Boten zusammengestoßen.
„Mr. Alden? Eine Nachricht von der Admiralität.“ Der Mann hielt ihm ein Schreiben hin.
Batiste musste gefasst worden sein! Jack brach das Siegel und überflog die wenigen Zeilen. „Verflucht!“ Er ließ das Blatt sinken und schüttelte fassungslos den Kopf. Ein Schiff der englischen Marine hatte die „Lady Vengeance“ tatsächlich in einem Hafen der Insel La Palma entdeckt. Doch es war dem schnellen Segler samt seinem verbrecherischen Kapitän gelungen, den Verfolgern zu entkommen.
Jack gab dem Butler der Dawsons keine Chance, ihn anzumelden. Er drängte sich einfach an dem Mann vorbei und riss die Tür zu Minervas kleinem Salon auf.
Vor Schreck ließ die junge Dame, die am Schreibtisch saß und Einladungen schrieb, den Federkiel fallen. Dann fasste sie sich und begann zu schimpfen. „Jack Alden, was haben Sie sich dabei gedacht? Sie sollten wissen …“
„Wo ist sie?“, fiel er ihr ins Wort. „In Dayle House habe ich erfahren, dass sie London verlassen hat. Doch mehr wollte Fisher mir nicht sagen. Also: Wo, um alles in der Welt, ist sie?“
„Es wundert mich, dass Sie das überhaupt interessiert“, gab Minerva noch immer sehr zornig zurück, „nachdem Sie sich so lange nicht bei ihr gemeldet haben.“
„Wo ist sie?“ Seine Stimme verriet, dass er mit seiner Geduld am Ende war.
„Auf dem Heimweg nach Dorset.“
„Dann ist ihre Mutter wohl zurückgekommen und hat sie mitgenommen?“
„Nein, Mrs. Beecham ist noch in Kent. Lily hat beschlossen, die Bartleighs zu begleiten.“
„Aber warum?“
Minerva starrte ihn ungläubig an. „Sie fragen, warum? Himmel, wahrscheinlich sah sie keinen Grund, länger in London zu bleiben.“
Jack ließ den Kopf hängen. Er begriff, dass Lily nach den Ereignissen auf dem Ball verständlicherweise auf ein Wort von ihm gewartet hatte. „Es tut mir leid“, murmelte er. Dann fiel ihm noch etwas ein. „Fisher erwähnte, dass sie einen Brief erhalten hat, der sie ziemlich aus dem Gleichgewicht gebracht haben muss.“
„Ja, das hat er mir auch verraten. Allerdings dachte ich, Sie hätten diese Nachricht verfasst.“ Nachdenklich runzelte Minerva die Stirn. „Wenn das Schreiben nicht von Ihnen war, von wem war es denn? Vielleicht hat Lilys Cousin …“
„Ihr Cousin! Sie hat von ihrem Cousin gehört?“
„Das weiß ich nicht. Ich vermute es nur, weil sie einmal eine Bemerkung machte, die mir seltsam erschien. Sie sagte …“
Doch Jack hörte schon nicht mehr zu. „Ich danke Ihnen, Minerva“, rief er. Dann war er zur Tür hinaus.
12. KAPITEL
Jack wäre am liebsten sofort aufgebrochen, doch selbst in seinem aufgewühlten Zustand war ihm klar, dass es zuvor noch einiges zu erledigen gab. Also verließ er London erst am folgenden Morgen. Das bedeutete, dass Lily und die Bartleighs zwei Tage Vorsprung hatten. Immerhin war es beruhigend, dass Minerva ihm eine Nachricht geschickt hatte, aus der hervorging, dass die Reisenden aus Rücksicht auf Mrs. Bartleighs Gesundheitszustand nur kleine Tagesetappen geplant hatten.
In Gedanken malte Jack sich immer wieder aus, was er tun würde, wenn er Lily endlich eingeholt hatte. Manchmal war er fest entschlossen, sie voller Wut zu schütteln und sie anzuschreien, weil sie ihm nichts von dem Brief ihres Cousins erzählt hatte. Dann wieder stellte er
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