Miss Lily verliert ihr Herz
auf der Welt waren: ihr Gatte und Lily, die sie – wie sie selbst gesagt hatte – wie eine Tochter liebte.
Die Vorstellung gab Jack Kraft. Er hob die Hand, um zu klopfen. Von drinnen war leises Stimmengemurmel zu hören. Würde er stören? Er zögerte. Dann beschloss er, die Tür einfach leise zu öffnen.
Sein Blick fiel sofort auf Lily, und sein Herz machte einen Sprung.
Sie saß mit dem Rücken zu ihm auf einem Stuhl und sprach mit Mrs. Bartleigh, die im Bett lag. Jetzt beugte sie sich nach vorn, um der Kranken sanft die Hand auf die Wange zu legen.
Jack rührte sich nicht. Sein Puls allerdings raste, und er konnte die Augen nicht von Lily abwenden. Sie trug wieder ihr unförmiges braunes Kleid, das, in dem er sie zum allerersten Mal gesehen hatte. Ihre Frisur hatte gelitten, und einzelne Haarsträhnen fielen ihr in den Nacken. Trotzdem erschien sie ihm wunderschön.
Er machte einen Schritt nach vorn und einen zur Seite. Und nun konnte er auch den sanften Ausdruck auf ihrem Gesicht erkennen. Deutlich spürte er ihre innere Stärke und die Ruhe, die von ihr ausging. Ihre Güte und Herzenswärme rührten ihn so, dass er unwillkürlich schlucken musste.
Die Kranke flüsterte etwas und griff mit mageren Fingern nach Lilys Hand.
„Ja, bitte“, sagte eine männliche Stimme, „singen Sie doch für uns.“ Es war Mr. Bartleigh, der sich auf einem Sofa ausgestreckt hatte. „Sie haben eine so schöne Stimme. Ihnen zuzuhören wird uns guttun.“
Lily schaute mit einem traurigen Lächeln zu ihm hin und begann zu singen.
Es musste sich wohl um ein Kirchenlied handeln, denn es erzählte von der Freude des Heimkommens und dem Glück, Frieden zu finden. Jack hatte es nie zuvor gehört. Dennoch nahmen Text und Melodie ihn ebenso gefangen wie die Bartleighs. Andächtig lauschten die drei der klaren, ausdrucksvollen Stimme.
Die Kranke schloss die Augen, über die Wange ihres Gatten rann eine einzelne Träne. Aber sein Gesichtsausdruck verriet die gleiche innere Ruhe, die auch Lily erfüllte und die sich sogar in ihm selbst ausbreitete.
Einen Moment lang wünschte Jack sich, die Zeit würde stehen bleiben. Diese Szene war so ganz anders als alles, was er sich ausgemalt hatte. Er sehnte sich danach, Lily in die Arme zu schließen. Doch gleichzeitig wusste er, dass er es nicht über sich bringen würde, den Frieden der drei Menschen zu stören.
Er verließ den Raum, zog die Tür leise ins Schloss und lehnte sich gegen die Wand. Endlich begriff er, worauf er verzichtet hatte, als er sich entschloss, zwischen sich und seinen Mitmenschen eine Mauer zu errichten.
Lange stand er so, ohne die Kraft zu finden, irgendetwas zu unternehmen. Seine Überzeugung, vor Jahren den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, war zerstört. Er kam sich feige und selbstsüchtig vor. Lily hingegen war das leuchtende Beispiel dafür, was man erreichen konnte, wenn man sich anderen öffnete, ihnen half und Lebensfreude ebenso wie Güte an den Tag legte. Sie war stark. Er war schwach. Ja, er war ihrer nicht würdig.
Endlich ging Jack mit hängenden Schultern und den Schritten eines alten Mannes zurück zur Treppe. Er begab sich nach unten, erleichtert darüber, dass er niemandem begegnete, und trat in den Garten hinaus.
Es war eine klare Nacht, und das Licht von Mond und Sternen genügte, um ihn Pflanzen und Wege erkennen zu lassen. Langsam setzte er Fuß vor Fuß und fand sich schließlich am Ufer des Flüsschens stehend wieder. Er setzte sich auf die niedrige Steinmauer und starrte ins Wasser.
Seine Gedanken wanderten zu seinem Bruder Charles, der vor einiger Zeit ein paar schwierige Monate hatten durchstehen müssen. Von allen Seiten hatte man ihn angegriffen, und er war so damit beschäftigt gewesen, seinen Ruf als Politiker zu retten, dass er darüber fast die Liebe seines Lebens verloren hätte. Damals hatte er ihm sinngemäß gesagt: „Du musst eine Entscheidung bezüglich deiner Zukunft treffen. Wenn du dir über deine Wünsche klar geworden bist, werde ich dir helfen.“ Charles hatte sich richtig entschieden, er hatte seine Sophie geheiratet und war glücklich geworden.
Jack stieß einen tiefen Seufzer aus. Wenn er sich doch nur sicher gewesen wäre, dass er Lily ein guter Ehemann sein würde! Zunächst hatte er sich davor gefürchtet, sich ihr zu öffnen. Er wollte niemanden lieben, denn Liebe machte verletzlich. Und nun, wo er seine Ängste überwunden hatte, zögerte er aus einem anderen Grund, Lily einen Antrag zu machen. Er
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