Miss Lily verliert ihr Herz
meinem Sterbebett darüber nachgegrübelt, warum ich mich so dumm benommen habe. Wir gehören zusammen, zumindest jetzt. Und was die Zukunft bringt, darüber will ich mir im Moment keine Sorgen machen. Wir haben uns richtig entschieden.“
Er zog sie fester an sich, und sie genoss es, ihm so nah zu sein.
„Du hast natürlich recht damit“, murmelte sie, „dass der Tod einen großen Einfluss auf die Lebenden ausübt. Das habe ich am eigenen Leib erfahren.“
„Du denkst an deinen Vater?“
„Hm … Es war schlimm für mich, ihn zu verlieren. Sein Tod hat mein Leben und das meiner Mutter sehr verändert. Aber das war wahrscheinlich nicht anders, als dein Vater starb.“
Erschrocken stellte sie fest, wie seine Augen sich überschatteten. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Dann begriff sie. „Liebster? Was ist mit deinem Vater? Was hast du mir bisher verschwiegen?“
Sein Lachen klang bitter. „Er war ein harter Mann.“ Jack hob Lily von seinem Schoß, stand auf und begann, im Raum auf und ab zu gehen. „Wir haben uns nicht sehr nahgestanden. Vermutlich gab es überhaupt keinen Menschen, dem er nahestand …“
„Wie traurig.“
„Ich glaube, er hat versucht, eine Beziehung zu meinem ältesten Bruder Phillip aufzubauen. Aber Phillip starb. Und Vater folgte ihm einige Zeit später. Ich fürchte, beide konnten nicht so zufrieden aus der Welt scheiden wie Mrs. Bartleigh.“
„Es tut mir so leid für dich, für euch alle, Jack.“ Lily hatte die Stirn gerunzelt. „Ich vermisse meinen Vater noch immer, aber zumindest hat er mir seine Liebe gezeigt, so lange er lebte.“
Er antwortete nicht, sondern trat zur Tür und legte die Hand auf die Klinke. Ohne sich umzuwenden, meinte er schließlich: „Es dämmert schon fast. Wir sollten zurückgehen.“
„Ich habe dir nie erzählt, wie mein Vater gestorben ist.“
Ihre Worte schienen etwas in ihm zu berühren. Jedenfalls kam er zurück zu ihr und fragte: „Möchtest du darüber reden?“
Sie nickte. „Du bist der Erste, mit dem ich darüber spreche.“
„Sollen wir noch ein wenig im Garten spazieren gehen?“ Er reichte ihr den Arm, und dankbar hakte sie sich bei ihm ein. So verließen sie das Cottage.
„Ich muss zuerst von meiner Mutter erzählen“, sagte Lily. „Solange ich klein war, wusste sie nicht viel mit mir anzufangen. Doch als ich vierzehn wurde, begann sie, sich für mich zu interessieren. Sie wolle dafür sorgen, dass ich wie eine Dame erzogen würde, meinte sie.“
Jack lachte leise auf. „Das war wahrscheinlich ein ziemlicher Schock für dich.“
„Nein, im Gegenteil, ich war froh, endlich eine Möglichkeit zu haben, Dinge zu tun, die ihr gefielen. Sie sah sich Modezeitschriften mit mir an, erklärte mir, wie eine Dame sich zu benehmen habe, und führte mich in die Pflichten einer Hausfrau und Gastgeberin ein.“
„Sie brachte dir bei, beim Dinner auf die Sitzordnung zu achten?“, meinte Jack mit freundlichem Spott.
„Genau.“ Ein Lächeln huschte über Lilys Gesicht. „Ich gab mir große Mühe, alles richtig zu machen. Allerdings war ich nicht bereit, auf anderes, was mir lieb und teuer war, zu verzichten. Ich ritt beinahe täglich aus und ließ mir von Papa zeigen, wie man ein Landgut verwaltet. Wahrscheinlich war ich weit und breit als Wildfang bekannt. Trotzdem muss meine Mutter gehofft haben, mich mit einem der vornehmsten und reichsten Gentlemen in der Gegend verheiraten zu können.“
„Und dann?“
„In Weymouth wurde ein Ball veranstaltet. Ich hatte bisher an keiner großen Gesellschaft teilgenommen. Mama war entschlossen, die Gelegenheit zu nutzen, um mich mit den Gepflogenheiten der vornehmen Welt bekannt zu machen. Anschließend, so versicherte sie mir, wäre ich in der Lage, nach London zu gehen, um dort in die Gesellschaft eingeführt zu werden.“
Lily verstummte, und Jack wartete geduldig.
Nach einer Weile sprach sie weiter. „Der große Tag kam. Am Nachmittag zog der Himmel sich zu. Der Wind frischte auf. Meine Kinderfrau sprach von schlechten Vorzeichen. Doch Mama hielt an ihrem Entschluss fest. Und Papa erklärte, er könne einfach nicht länger darauf warten, sich zum ersten Mal in aller Öffentlichkeit mit seiner hübschen Tochter zu zeigen. Also fuhren wir wie geplant los. Nachdem wir etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, brach ein fürchterliches Gewitter über uns herein. Ein Sturm peitschte über das Land, und der Regen war so heftig, dass man keine vier Schritt weit sehen
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