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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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auch allzu gerne ein Stück aus London sehen, ermutigte Déprez sie. »Sie werden bestimmt während der Saison nach London kommen und sich mit Konzerten, Theaterstücken und Einkaufen die Zeit vertreiben. Schließlich ist es das oberste Bestreben junger Damen aus bescheidenen Verhältnissen, die Saison in London zu verbringen.«
    »So, wie Sie reden, scheinen Sie London sehr gut zu kennen, Sir. Ich nehme an, Sie sind nicht zum ersten Mal in England, oder?«, fragte Mr. Goudge.
    »Nein, Sir. Als Kind habe ich einige Zeit hier gelebt.«
    »Vor ein paar Jahren gab es einen Franzosen - nein zwei -, die in Bury lebten«, sagte Mrs. Tipton. »Mr. Brownlowe erzählte mir davon. Er kümmert sich um meine geschäftlichen Angelegenheiten«, erklärte sie Déprez, »ein sehr fähiger und angesehener Mann.« Dazu nickte sie bedeutungsvoll.
    »Und was hatte Mr. Brownlowe über diese beiden Besucher zu berichten?«
    »Oh, ich glaube das waren recht ruhige, fügsame Kreaturen«, räumte sie ein, »sehr an Karotten interessiert.«
    »Vermutlich ist der Ackerbau hier in England wesentlich fortschrittlicher als alles, was die beiden je in Frankreich zu Gesicht bekommen haben«, bestätigte Mr. Goudge, während seine Sitznachbarn ihm leise murmelnd zustimmten.
    »Ich erinnere mich an sie«, fügte Mr. Somerville hinzu, »der Herzog von La Rochefoucauld und sein Bruder. Da war auch noch ein dritter, ein Pole, glaube ich, vielleicht auch ein Russe. Prächtige Kerle. Die kamen, um sich unsere Zugpferde anzusehen. Wir nennen sie Punch-Pferde, Miss Finch. Ja, und sie waren schwer beeindruckt. Einer meiner Pächter hatte zwei davon, mit unvergleichlicher Zugkraft und genauso gutmütig wie alle anderen Tiere. Die haben sie den Ausländern vorgeführt, und, was soll ich sagen, sie haben ihren Augen kaum trauen können.« Bei der Erinnerung daran schüttelte er den Kopf, dann sah er betrübt drein. »Wo sie heute wohl sein mögen? Tot bestimmt, oder Republikaner geworden.«
    Die Aussicht, dass eines dieser beiden Schicksale die beiden Franzosen und womöglich auch den Polen oder Russen ereilt haben könnte, trübte die Stimmung, und Mrs. Somerville gestikulierte wild, damit man den zweiten Gang hereintrug. Schnell servierte man Tartes, Weinschaumcreme, geschmorte Tauben, Kartoffelauflauf und Toast mit Anchovis, was eine willkommene Ablenkung bot. Jedenfalls verbesserte sich Mrs. Tiptons Stimmung schlagartig. Sie sagte, sie wüsste, man habe jede Menge französische Adelige - Männer, Frauen und selbst Kinder - guillotiniert, aber gäbe es denn auch viele, die mit dem neuen Regime sympathisierten?
    Mr. Goudge meinte, das müssten sie unweigerlich, um ihren Kopf zu retten, wenngleich er dies für recht feige hielt. »Man sagt, Gentlemen hätten sich gescheut, ordentlich angezogen auf die Straße zu gehen, aus Angst, man könne sie dann für Aristokraten halten, sie verhaften und exekutieren.«
    »Das nenne ich die Tyrannei seines Schneiders zu weit treiben«, sagte Mr. Somerville mit einem Glucksen.
    »Frauen und Kinder auf so grausame Art zu morden«, meinte Mrs. Somerville schaudernd. »Ich glaube, sie müssen … Was sagen Sie dazu, Mr. Hunnable, aus theologischer Sicht?«
    Mr. Goudge antwortete an seiner statt. »Oh, mit Religion haben sie wohl nichts mehr am Hut, seit sie die Monarchie und damit alles, was anständig und ehrenhaft war, abgeschafft haben. Um nichts anderes ging es doch bei ihrer Revolution. Weg mit dem Alten, her mit dem Neuen - und hoffentlich finden sie keinen Gefallen daran!«
    »Das ist das Schlimmste bei diesen Fremden«, bestätigte Mr. Somerville. »Sie stürzen sich in diese wilden Intrigen, nichts und niemand kann sie aufhalten, und wenn sie auf die Nase gefallen sind - was von Anfang an vorhersehbar war -, haben sie kein Rückgrat. Und verlieren buchstäblich ihren Kopf, ha ha!«
    »Und in diesem Krieg wird es ganz genauso sein«, pflichtete Mrs. Tipton ihm bei.
    »Ja, Ma’am«, sagte Mr. Goudge. »Zweifelsohne.«
    »Amen«, intonierte zu guter Letzt Mr. Hunnable.
    Schon seit geraumer Zeit hatte Mary mit dem Essen innegehalten. Als sie nun das übrig Gebliebene auf ihrem Teller mit der Gabel herumschob, schien es ihr, als ob ihre Landsleute wetteiferten, wer die taktloseste Bemerkung über die Lippen zu bringen vermochte. Das erinnerte sie sehr an den rauen Ton der Gäste im Great White Horse. Sich an Déprez wendend, der alle Äußerungen gleichmütig tolerierte, fragte sie: »Finden Sie es eigentlich unangenehm,

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