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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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hingelegt und sich mit dem Mantel zugedeckt. Nach einigen Stunden unruhigen Schlafs wachte sie auf und schrieb eine zweite Nachricht an Mrs.Tipton. Da sie aber über nichts weiter als ihre wohlbehaltene Ankunft zu berichten wusste, stellte sich das Ganze als recht unerquickliches Unterfangen heraus. Alles in allem war sie nicht besonders gut vorbereitet auf ihren ersten Ausflug nach London, sodass Mary dankbar war, als Hicks eine vorbeifahrende Droschke herbeiwinkte und ihr hineinhalf. »Zur Bow Street«, wies er den Kutscher an und stieg ebenfalls ein.
    Während der Verkehrslärm um sie herum fortdauerte, schwiegen beide für den Rest der Fahrt. Hicks war hellwach und aufmerksam. Seine Müdigkeit hatte er abgelegt und machte nun einen schon fast jugendlichen Eindruck. Gleichzeitig wirkte er aber auch angespannt, was ihn reserviert erscheinen ließ. Deshalb war es Mary unangenehm, sich an ihn zu wenden, um ihn auf Sehenswürdigkeiten hinzuweisen oder weitere Fragen zu stellen. Stattdessen hielt sie mit sich selbst Rat und fragte sich, was wohl als Nächstes geschehen mochte. Was würde wohl die City Police zu der seltsamen, verwirrenden Geschichte über Schmuggler und Spione noch beitragen können? Und wo waren nur Captain Holland und Mr. Déprez?
    Auch auf der Wache in der Bow Street herrschte frühmorgendliche Betriebsamkeit, da die Constables von ihrer nächtlichen Streife zurückkehrten. Viele führten Opfer, Zeugen oder Übeltäter mit sich, und so manches Mal war nicht eindeutig erkennbar, wer was war. Der benommen wirkende Mann mit den schwarzen Augen beispielsweise: Hatte man ihn ausgeraubt oder war er betrunken auf der Straße aufgegriffen worden? Und die zwei Streithennen? Beide wirkten alles andere als überrascht, sich auf der Polizeiwache wiederzufinden. Mary musterte den Mann mit gefesselten Händen, den man an ihr vorbeiführte. Sein Gesicht war aufgeschürft und blutig, und der schmutzige Mantel hing nur noch lose von einer Schulter. Er versuchte Blickkontakt zu ihr aufzunehmen, doch sie sah weg und trat reflexartig zu dem hinter der Theke stehenden Mann in Uniform, da sie sich in seiner Nähe sicher wähnte.
    Hicks war der Polizei wohlbekannt, denn als er seinen Namen nannte und erwähnte, er habe etwas mit St. Lucia zu tun, wichen umgehend Langeweile und Desinteresse aus dem Gesicht des Beamten. »Selbstverständlich, Sir«, sagte er. »Mr. Hudson ist gerade erst eingetroffen, aber ich bin mir sicher, dass er Sie gleich sehen will.«
    Da sich niemand um Mary kümmerte, folgte sie Hicks die Treppe hinauf in den ersten Stock. Dort stellte man sie einem streng und unnachgiebig dreinblickenden Mann vor, der gerade seinen morgendlichen Tee zu sich nahm. »Miss Finch«, erläuterte Hicks, »ist sehr in unsere Sache involviert gewesen, Sir.«
    »Tatsächlich?«, fragte Hudson. Er wirkte offensichtlich überrascht, aber weder an seiner Stimme noch an seinem Gesichtsausdruck konnte Mary ablesen, ob er vorhatte, ihr einen Platz anzubieten oder sie in Eisen zu legen.
    »Unschuldig involviert, hätte ich wohl besser sagen sollen«, fuhr Hicks fort. »Es war nicht ihr Fehler. Zumindest war es kein Fehler, wenn man davon absieht, dass sie eine sehr intelligente junge Dame ist.«
    Mary fügte eilfertig hinzu: »Ich habe nicht die Absicht, mich in Ihre Arbeit einzumischen, Sir, es ist nur so, dass ich...« Plötzlich erschien es ihr lächerlich zu erklären, dass sie den ganzen weiten Weg nach London gekommen war, nur um zu verstehen, was vor sich ging, und weil sie nicht außen vor gelassen werden wollte, doch ihr Redefluss versiegte.
    »Selbstverständlich«, sagte Hudson höflich, wenn auch vage. Dann bedeutete er ihr, auf einem Stuhl neben seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Darauf lag ein Papierstapel, der teilweise von einem Garderobenständer überhängt war. »Tun, äh, machen Sie es sich bequem, und ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn Hicks und ich gewisse Dinge besprechen.«
    »Nein, Sir. Überhaupt nicht«, antwortete sie. Als sie die Papiere und Mr. Hudsons Mantel beiseiteschob, kam ihr der Verdacht, dass er ihrer Rolle nun auch nicht viel mehr Gewicht beimaß als zuvor. Dennoch war es angenehm, etwas entfernter zu sitzen, selbst zu beobachten und sich nicht beobachtet zu fühlen. Sie würde zuhören und so viel wie möglich in Erfahrung bringen, aber sie hätte auch nichts gegen eine Tasse Tee einzuwenden gehabt. Allein schon bei dem Gedanken daran knurrte ihr der Magen.
    »Gut«, sagte Hudson.

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