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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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identifizieren«, sagte sie in einemTon, der Déprez sowohl unterstützte als auch herausforderte. Sie war bereit zu helfen - mehr als bereit -, aber sicher nicht aus Sympathie für Déprez.
    »Genau«, stimmte er zu. »Ich vermute mal, Sie wollen nachher nicht … mit dem falschen Mann dastehen, oder?«
    Empört fuhr Hudson hoch, aber Mary schnitt ihm das Wort ab. »Bitte«, drängte sie, »ich bin mir sicher, Sie halten Ihr Wort, aber ich werde mitkommen, wenn das dem … Plan hilft.«
    »Ah, schon gut, schon gut«, lenkte Hudson ein und lehnte sich voller Verzweiflung in seinem Stuhl zurück. Dann kam ihm ein neuer Gedanke. »Und woher weiß ich, dass Sie Holland nicht umbringen, Sir?«
    Wieder zuckte Déprez mit den Achseln. »Das wissen Sie nicht.«
     
    Nachdem die Entscheidung einmal gefallen war, wurden die notwendigen Vorbereitungen schnell getroffen. Mary hatte daran nur einen geringen Anteil, nichtsdestoweniger fühlte sie sich in den nächsten Stunden wie in einem seltsamen Trancezustand. Trotz der ungewöhnlichen Umstände geschahen auch ganz banale Dinge. In den frühen Abendstunden dämmerte es Hudson, dass Mary seit der Scheibe Toast im King’s Arms nichts mehr zu sich genommen hatte. Er meinte, sie müsse unverzüglich etwas essen. Und so fand sie sich in einem betriebsamen Steakhaus in der King Street wieder, bei knorpeligem Steak, Kartoffeln, gekochtem Kohl und einem Fleischpudding neben einem Constable mittleren Alters als Anstandswauwau, den die Großzügigkeit seines Chefs derartig erstaunte, dass es ihm vollständig die Sprache verschlug.
    Mary beobachtete die Szenerie um sich herum - die Tische waren von Schreibern und Lehrlingen umlagert - und lauschte den Gesprächen über Bestände und Vorräte an Viktualien, Käufe und Verkäufe. Dies war eine andere Welt als die, welche sie bislang kennengelernt hatte. Und sie wunderte sich, nun ein Teil davon zu sein, wenn auch nur für kurze Zeit. Doch was blieb ihr übrig, als sich so gut wie möglich anzupassen. Bald schon würde sie sich weit größeren Herausforderungen gegenübersehen, als an einem zähen Stück Fleisch herumzukauen. Eine Rettung aus den Klauen von Verbrechern oder der Austausch eines Übeltäters gegen einen anderen? Sie erinnerte sich an ihre Flucht aus White Ladies - waren wirklich erst elf Tage vergangen, seit sie erstmals in ihrem Leben in einen Strudel von bemerkenswerten Ereignissen geraten war, die weit über ihre alltäglichen Erfahrungen hinausreichten?
    Mary versuchte, nicht an Captain Holland zu denken. Sie wollte an seine Unschuld glauben. Aber es war nichts weiter als ein Wunsch. Wenn sie die Tatsachen nüchtern betrachtete, war es schwer zu glauben, dass er nicht zu den Verschwörern gehörte. Was würde passieren, wenn die Polizei ihn aufspürte? Gäbe es ein Verfahren? Was, wenn man ihn verurteilte? Aber sie dachte schon viel zu weit voraus, denn wer vermochte schon zu sagen, ob die Rettung erfolgreich verliefe? Mr. Déprez schien zuversichtlich, aber inwieweit konnte sie das beruhigen? Mr. Déprez war … ein Schurke - so jedenfalls hatte ihn Mr. Hudson genannt, also musste es wahr sein. Aber es war so ungeheuerlich … und furchtbar. Wie erschreckend, dass jemand sich in solch einem falschen Licht darstellen konnte, dass er so vollkommen anderes lebte, als er es der Welt und ihr selbst vorgaukelte. Und sie schien nicht nur eine Person mit dieser Fähigkeit zur Täuschung enttarnt zu haben, sondern gleich zwei.
    Kurz vor acht verließen sie die Bow Street in zwei dunklen, unauffälligen Droschken. In der ersten fuhren zwei Constables. Hudson, Déprez und Mary folgten in der zweiten. Alle drei waren äußerst angespannt, obwohl Déprez versuchte, Ruhe auszustrahlen. Er blickte interessiert aus dem Fenster und kommentierte die vorbeiziehenden Sehenswürdigkeiten. Keiner der beiden anderen konnte jedoch zu einem Gespräch bewogen werden, und Mary fand Déprez’ Verhalten außerordentlich ermüdend. Wie konnte er nur erwarten, dass sie sich mit ihm unterhielte, als ob nichts vorgefallen sei? Als ob ihr Vorhaben vollkommen alltäglich wäre? Aber noch etwas anderes verwirrte sie. Obgleich sie es nicht hätte erklären können, hatte sie doch das Gefühl, als hielte lediglich ihre Konzentrationsfähigkeit das drohende Chaos irgendwie in Schach. Wenn sie auch nur einen Augenblick aufhörte, über die kommenden Ereignisse nachzudenken, geschähe etwas Unerwartetes, und die Rettung würde scheitern.
    Die Droschken fuhren
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