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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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auf, und sie blickte zu ihm hinüber.
    »Vielleicht kann man uns in Ipswich etwas über ihn sagen.«
    »Er kam nicht von dort«, murmelte Holland. »Zumindest hat Bamford das gesagt - der Wirt vom Great White Horse.«
    »Bedauerlich. Dennoch werde ich bei meinen Richterkollegen Nachforschungen anstellen.« Mr. Somerville spähte durchs Fenster nach oben zum trüben, wolkenverhangenen Himmel. »Hoffentlich bekommen wir nicht gleich wieder einen Schauer. Meiner Erinnerung nach ist das seit ewigen Zeiten der schlimmste Michaelstag, was das Wetter anbelangt.« Draußen, vor dem Kutschenfenster auf Hollands Seite, glitt in sanften Wellen eine lange Hecke an ihnen vorüber. Er warf einen flüchtigen Blick hinaus und schloss dann die Augen.
    Während Mary ihn weiter beobachtete, tauchte vor ihrem inneren Auge ein verschwommenes Bild von ihrer vorherigen Reise auf. Sie musste insgeheim lächeln, als sie das geheime, unsichtbare Band zwischen ihnen erkannte. Als sich die Kutsche vor einer Kurve verlangsamte, beugte sie sich vor und fragte Holland, ob es ihm etwas ausmachte, die Plätze zu tauschen. »Danke«, sagte sie mit einem Kopfnicken, während sie sich aneinander vorbeischoben. Ihr Blick verriet indes nicht, was sie dachte. »Auf Dauer finde ich die Schaukelei tatsächlich ein wenig … störend.«
    »Und Sie bevorzugen es, sich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung zu setzen?«, fragte Mr. Somerville. »In der Regel ist es gerade umgekehrt. Aber das müssen Sie selbstverständlich selbst wissen.«
    Von ihrem neuen Platz aus konnte Mary Mr. Déprez eingehender in Augenschein nehmen, ohne ihn anstieren zu müssen, was unhöflich gewesen wäre. Sie konnte ihn einfach … auf sich wirken lassen. Ihre Mutter hatte einmal gesagt, man könne anhand der Hände eine Menge über einen Gentleman erfahren. Zunächst einmal, ob er überhaupt diese Bezeichnung verdiente, oder zumindest, ob er den Betätigungen eines Gentlemans nachging: Weiche Wurstfinger konnten wohl nie die Zügel eines Pferdes halten, während Schwielen und brüchige Fingernägel wohl nicht vom Umblättern einer Buchseite herrührten. Ein Gentleman sollte natürlich gleichermaßen draußen auf dem Feld wie in der Bibliothek zu Hause sein. Zu viel Schmuck ließ auf einen Dandy schließen, und ausgefranste Manschetten waren ein untrügliches Zeichen für Geldmangel. Gemäß dieser Kriterien war Mr. Déprez durch und durch ein Gentleman. Er hatte rein gar nichts Ungepflegtes oder Dandyhaftes an sich, sondern strahlte - ganz anders als seine Sitznachbarn - eine schlichte Eleganz aus. Mary fragte sich, ob ihm wohl überhaupt jemals der Sinn nach einem herzhaften Frühstück stünde.
    Nach dem Platzwechsel saß Mr. Hunnable nun noch dichter gegen Déprez gedrängt, der bemerkte: »Ich nehme nicht an, dass Sie in Ihrer Gemeinde vielen Schmugglern begegnen, oder, Sir?«
    Mr. Hunnable verneinte dies vehement, doch nach kurzem Innehalten räumte er ein: »Manchmal mitten in der Nacht … hört man gewisse Dinge, wenn man wie ich einen leichten Schlaf hat. Und ich muss gestehen, dass ich es mir in der Vergangenheit zur Gewohnheit gemacht habe, mich bei solchen Gelegenheiten vom Fenster fernzuhalten und … Aber selbstverständlich hat sich das alles geändert, seit wir in diesen entsetzlichen Krieg verwickelt sind.«
    »Ach?«
    Mr. Hunnable erklärte, er habe sich im Falle einer französischen Invasion dazu verpflichtet, die Kirchenglocken zu läuten, woraufhin Déprez zustimmte: »Eine löbliche Sache.«
    »Es ist zwar nicht allzu viel«, räumte der Geistliche ein, »aber wenn unsere Gemeinde bedroht wird, tragen Geistliche ebenso die Verantwortung für ihren Schutz wie die Männer des Schwertes. Besonders wenn es sich bei unseren Gegnern um so gottlose Geschöpfe handelt.«
    »›Tritt hinter mich, Robespierre‹, wie?«, spöttelte Mr. Somerville glucksend.
    Mr. Hunnable erschauerte. »Ich wage gar nicht, mir auszumalen, was geschehen wird, wenn das Unglück einer Invasion über uns hereinbricht.« Er sann einen Moment über seine Worte nach und fügte dann mit nervösem Unterton hinzu: »Sie glauben doch nicht etwa, es könnte sich bei den Männern in White Ladies um Franzosen gehandelt haben?«
    Seine Vermutung, sie könne in die Gefangenschaft des Feindes geraten sein, hätte bei Mary wahre Schreckensbilder auslösen müssen, doch der Gedanke des Geistlichen bewirkte in ihr etwas ganz anderes. Sie wandte den Blick ab, um ihr Lächeln zu verbergen, und meinte nur, sie

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