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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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fand sie beide Uhren. Die Schmuggler waren offenbar schlau, denn sie erleichterten Mr. Somerville ihre Verfolgung nicht gerade. Der Friedensrichter machte seiner Enttäuschung über diesen Rückschlag mit einer Reihe gemurmelter Verwünschungen Luft und stapfte wütend den Korridor entlang, wobei er beim Gehen den Teppich mit seinem Spazierstock abrollte. Marys Reaktion war etwas zurückhaltender. Sie machte einfach ihre abgegriffene lederne Geldbörse wieder zu, steckte sie in ihren Mantel und stand langsam auf. Ja, die Schmuggler waren sehr schlau gewesen; sie hatten die Uhren zurückgelassen, ihre Barschaft jedoch mitgenommen: zwar keine große Summe, aber es war fast alles, was sie besessen hatte. Damit hätte sie nicht einmal ihre Rückreise nach St. Ives bezahlen können.
    Angesichts dieser Erkenntnis verflüchtigte sich ihr Selbstvertrauen, und sie nahm den flackernden Kerzenschein, die alles durchdringende Kälte sowie die gedämpfte Konversation um sich herum kaum mehr wahr. Doch statt in Mutlosigkeit zu versinken, konzentrierte sie sich rasch darauf, was angesichts dieses Unglücks zu tun war: Sollte sie Mrs. Bunbury schreiben und um einen Vorschuss auf ihren Lohn bitten? Vermutlich würde diese ihr ein bescheidenes Darlehen gewähren, um Mary die Rückreise zur Schule zu ermöglichen. Doch dann müsste sie hier alles aufgeben. Zudem konnte sie sich Mrs. Bunburys Lektion und ihre gönnerhaften Blicke lebhaft vorstellen, und nicht zuletzt war da ihr eigenes Gefühl, versagt zu haben. Wie nur konnte sie es bewerkstelligen, in Suffolk zu bleiben? Moralisch stand sie bereits jetzt tief in der Schuld von Mrs. Tipton; konnte sie sich dazu noch eine finanzielle Schuld aufbürden?
    Mary verschwendete keinen Gedanken daran, ihren Verlust einem der Männer kundzutun. Sie war überzeugt, die anderen würden ihr augenblicklich und ohne ihr eine Lektion zu erteilen Geld zur Verfügung stellen. Aber sich auf Gedeih und Verderb ihnen auszuliefern erschien ihr irgendwie unschicklich. Das geziemte sich nicht für eine junge Dame. Es fiel ihr zwar schwer zu erklären, wie sich dies davon unterschied, dass sie Captain Holland gestattet hatte, ihre Reise von Ipswich aus zu bezahlen, aber sie war überzeugt, dass es einen Unterschied gab. Also schwieg sie und half stattdessen Mr. Déprez und Mr. Hunnable, die einige über den Boden verstreute Papiere auflasen. Sie gehörten Captain Holland, der meinte, es seien nur irgendwelche Notizen und Berechnungen, nichts von Belang. Er blätterte sie durch und ordnete sie wohl, bevor er sie in eine abgegriffene Ledermappe steckte. Als Mary ihm die letzten paar Blätter reichte, errötete er indes, denn dies waren Aufzeichnungen anderer Art, und nahm sie wortlos an sich.
    Vom Vestibül aus gingen sie zur Bibliothek, und nun überkam Mary eine andere Art von Unwohlsein.
    Während sie den Korridor entlanglief, entsann sie sich, dass sie hier überall gewesen waren. Die Bibliothek selbst bot noch immer das Chaos, das von ihrem Versuch herrührte, der Gefangennahme zu entgehen: der umgeworfene Stuhl, der zerbrochene Briefbeschwerer und der zerbeulte Kerzenständer. In der Küche hatten auch die Schmuggler deutliche Spuren hinterlassen. Neben den Überresten der Mahlzeit, die sich Mary und Holland hergerichtet hatten, standen mehrere gebrauchte Gläser und zwei leere Weinflaschen. Offenbar hatten sich die Schmuggler eine Stärkung genehmigt, nachdem ihre Gefangenen weggesperrt waren. Das zeugte von noch mehr Gefühllosigkeit, und als Mary sich umsah, fiel ihr Blick unweigerlich auf die diversen … Spieße an den Wänden. Sie schienen nicht für den häuslichen Gebrauch bestimmt zu sein; im Gegenteil, sie erweckten den Anschein von schauerlichen Folterwerkzeugen.
    Als man die Falltür gefunden und aufgestemmt hatte, stiegen Holland und Déprez in den Keller hinab, während die Übrigen oben blieben. Mary hielt gebührenden Abstand von den Kellerstufen und konnte es nicht ertragen hinunterzusehen, obgleich sie dem hin- und herflackernden Lichtschein der Laternen mit ihren Blicken folgte. Ihr schien, als schlüge ihr Herz in einem ähnlich stolpernden Takt.
    Déprez tauchte als Erster wieder auf. »Äußerst merkwürdig«, sagte er und wischte sich den Staub von den Händen, »und nicht sehr angenehm.«
    »Nein«, pflichtete ihm Holland aus der Tiefe bei. Wieder oben angelangt, blickte er Mary an, als wolle er sagen, Sie hätten nicht mit herkommen sollen , doch Mary zuckte mit den Achseln und

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