Miss Pettigrews grosser Tag
Pettigrew fiel in ihre alte Nervosität zurück. »Oh, meine liebe Miss LaFosse... ich versichere Ihnen … Sie tun mir Unrecht. Ich war …«
»Schon gut … schon gut«, sagte Miss LaFosse beschwichtigend. »War nur ein Scherz. Wie wär’s mit einem Häppchen zum Abendessen? Was soll ich bestellen?«
»Abendessen?«, fragte Miss Pettigrew. »Für mich? O nein, danke. Ich bin viel zu aufgeregt, um etwas zu essen. Am Ende bekomme ich wieder Verdauungsbeschwerden und Schluckauf und ruiniere mir den Abend.«
»Ich habe auch keinen großen Hunger«, bemerkte Miss LaFosse träge. »Alsdann lassen wir es fürs Erste und essen später noch einen Bissen?«
»Ausgezeichnet«, stimmte Miss Pettigrew zu.
Sie goss sich eine weitere Tasse Tee ein. Dieses Intermezzo
war sehr angenehm, doch allmählich zog es sich ein bisschen hin. Es sollte bald wieder etwas passieren. Sie kannte Miss LaFosse zwar erst seit dem Vormittag, aber seither war ständig etwas passiert. Und nun saß sie da und wartete, dass sich wieder etwas tat. Es hätte sie bitter enttäuscht, wenn nicht weiterhin ein Ereignis das andere jagte. Sie war kein bisschen überrascht, als es an der Tür läutete. Sogleich war sie auf den Beinen, mit erwartungsvollem Blick, auf alles gefasst, ob Schlachtengetümmel, Mord oder einen unerwarteten Todesfall. Miss LaFosse machte Anstalten, sich zu erheben.
»Ich gehe schon«, sagte Miss Pettigrew.
Aber es war nur der Blumenlieferant. Mit dem Päckchen in der Hand kam Miss Pettigrew langsam zurück ins Wohnzimmer.
»Da«, sagte Miss LaFosse und öffnete die Schachtel, »genau das Richtige.«
Eine einzelne scharlachrote Rose, eingebettet in fedriges Grün, glühte ihnen entgegen. Miss LaFosse hielt sie probeweise an Miss Pettigrews Schulter.
»Genau wie Edythe gesagt hat«, jubilierte Miss LaFosse. »Dieser eine kräftige Farbtupfer zu dem schwarzen Kleid und den grünen Ohrringen und der Perlenkette ergibt exakt die richtige Ausstrahlung – es ist …! Perfekt«, schloss sie, um das passende Wort verlegen.
Sie legte die Blume vorsichtig auf den Tisch und setzte sich wieder. Mit einem Mal überfielen Miss Pettigrew Gewissensbisse. Den ganzen Tag hatte sie Wohltaten angenommen, von Gleich zu Gleich mit Miss LaFosse geplaudert, Miss LaFosses Freunde aufgesucht. Was würde Miss LaFosse denken, wenn sie entdeckte, was sie eigentlich hergeführt hatte? Sie konnte sich nicht damit herausreden, dass sie versucht hätte, ihr reinen Wein einzuschenken. Es
waren sehr, sehr halbherzige Versuche gewesen. Natürlich hätte es bei gutem Willen reichlich Gelegenheit gegeben. Aber in all diesen Augenblicken war es Miss Pettigrew nie auch nur in den Sinn gekommen, zu einer Erklärung anzusetzen. Das Gewissen setzte ihr arg zu.
Bebend mühte sie sich, die leise, klare Stimme aus ihrem Innern zu verbannen. Sie wollte dorthin, wohin es heute Abend gehen sollte, wollte es unbedingt, mit aller Macht. Sie wollte einen Nachtclub besuchen, bei allem mitmachen, was dort vor sich ging, wollte zur Welt der Lebenslustigen gehören. Ohne Umschweife gestand sie sich ein, dass sie alle Prinzipien fahren ließ, nach denen sich ihr Leben bisher ausgerichtet hatte. Binnen eines einzigen kurzen Tages, beim ersten Wink der Versuchung, war sie in Sünde gefallen, nein, regelrecht gepurzelt. All ihre tugendhaft verbrachten Jahre zählten nicht. Nie war sie je in Versuchung geraten. Das süße Leben rief nach ihr, die Musik umgarnte sie, die Sündenpfuhle lockten. Sie wollte noch einmal den göttlichen Drink auf ihrer Zunge schmecken, den Tony ihr gebracht hatte und nach dem man sich so unverwundbar und mächtig fühlte. Es gab keine Ausrede. Sie konnte nicht leugnen, dass dieses sündige Leben, das Eltern und besagte Prinzipien so sehr verdammten, weit angenehmer war als der einsame Pfad der Tugend, und dass ihre moralischen Grundsätze der Prüfung nicht standgehalten hatten.
Mit wachsender Verzweiflung sah sie sich um. Die Vorstellung, diesen letzten, perfekten Abschluss eines perfekten Tages nicht zu erleben, machte sie krank vor Enttäuschung. Aber sie konnte keine weiteren Gefälligkeiten von Miss LaFosse annehmen und ihr weiter ein X für ein U vormachen. Dazu hatte man ihr ein zu strenges Gewissen anerzogen.
Sie setzte sich Miss LaFosse gegenüber.
»Es gibt da eine Kleinigkeit«, setzte Miss Pettigrew mit rauer, zittriger Stimme an, »die wir unbedingt klären sollten, bevor …«
»Ich hatte nie eine Mutter«, sagte Miss LaFosse.
Miss
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