Miss Saigon der Hund der Japaner und ich Roman
hochgehen würde, konnte aber nicht mal in der Ferne eine Lunte glimmen sehen. Im Gegenteil: Das Feuer schien in Lien zu brennen. Und kurz bevor meine Angebetete wieder den Weg ins heimische Gefängnis antrat, brachte sie den undenkbaren Vorschlag auf, für ein verlängertes Wochenende gemeinsam wegzufahren. Ihrer Mutter würde sie erzählen, sie sei mit einer Freundin unterwegs.
Man muss die Philosophien flexibel zu spielen wissen. In diesem Fall brachte mich das edle Anliegen der Aufklärer nicht weiter - nur die Stoiker konnten es noch richten. Also schob ich jeden Diskussionsbedarf beiseite, ertrug ungerührt die Rätselhaftigkeit von Liens Verhalten und buchte uns umgehend in den romantischsten Strandbungalow des Landes ein. Nur wenige Tage später saß Lien, an meine Seite gelehnt, neben mir im Bus. Unser Schweigen war kein Zeichen, dass wir uns nichts zu sagen hatten, sondern ein stilles, gemeinsames Genießen; ein wortloses Signal, dass diese holprige Straße genau der richtige Weg für uns war.
Wir ließen die Stadt und die Vororte hinter uns. Draußen zogen nun Reisfelder vorbei. Gruppen von Frauen standen gebückt im fast knietiefen Wasser, das Gesicht unter dem Strohhut mit einer Maske vermummt. Lange Ärmel, Handschuhe. Kein Krümel Sonnenlicht sollte die Haut berühren und ihr ungeliebte Farbe bringen. Kurz darauf mischten sich Drachenfruchtplantagen in die Szenerie, deren Pflanzen mit ihren tentakelartigen Blättern aussahen wie Kakteen. Hin und wieder passierten wir kleine Dörfer, deren Hauptstraßen mit roten Bannern behängt waren, auf denen in leuchtend gelben Lettern stand:
Die Kommunistische Partei führt uns in eine reiche, schöne Zukunft!
oder
Die große Kommunistische Partei währet zehntausend Jahre!
»Interessiert das eigentlich irgendjemanden?«, fragte ich Lien. Sie zuckte mit den Achseln.
»Nicht wirklich. Vor allem nicht uns im Süden. Du hast ja sicher schon bemerkt, dass wir auf die Leute aus dem Norden immer noch nicht so gut zu sprechen sind.«
»Aber der Krieg ist fast fünfundzwanzig Jahre vorbei. Ist das nicht genug, um die alten Differenzen zu vergessen?«
»Der Krieg, ja. Aber das wahre Übel kam für die meisten erst danach.«
Sie deutete auf eines der Banner, an dem wir gerade vorbeirauschten, und fuhr fort:
»Nach der ›Befreiung von Saigon‹ wurden alle wichtigen Positionen im Süden mit Leuten aus Hanoi und dem Norden besetzt. Das waren oft Kriegshelden oder Männer, die sich in
der Partei verdient gemacht hatten. Aber vor allem: Die meisten waren einfache Bauern, die auf einmal einen Staat verwalten und ein Land wiederaufbauen sollten. Das konnten sie natürlich nicht. Aber sich selber haben sie schön die Taschen vollgemacht - und die Intellektuellen und Verwaltungsangestellten aus dem Süden in Umerziehungslager gesteckt.«
Ich erinnerte mich, dass Minh mir von seinem Vater erzählt hatte - einem einfachen Lehrer, der nach Kriegsende mehrere Jahre in einem Lager eingesperrt gewesen war.
»Wo uns das hingeführt hat, weißt du: in eine totale wirtschaftliche Katastrophe. Heute hat sich zum Glück schon vieles verändert. Aber man kann nicht gerade sagen, dass die Leute von der kommunistischen Idee begeistert sind. Jeder macht einfach sein Ding und sieht zu, dass es ihm gut geht.«
Ich blickte aus dem Fenster und sah den Leuten hinterher, die dort ihrer täglichen Arbeit nachgingen. Schweigend ließ ich die völlig unterschiedlichen Lebensumstände Revue passieren, in denen Lien und ich aufgewachsen waren - und die uns doch an den Punkt geführt hatten, dass wir heute zusammen in diesem Bus saßen und über eine mit Schlaglöchern gepflasterte Piste in ein Strandresort fuhren.
Ob Lien ähnliche Überlegungen in sich trug? Sie lehnte sich wieder an mich und hing ihren eigenen Gedanken nach. Plötzlich drang ein übler, fauliger Geruch mit Vehemenz in meine Nase. Lien richtete sich auf und spähte erwartungsvoll nach draußen.
»Wir sind gleich da!«
»Du meinst, ausgerechnet hier verbringen wir unser Wochenende?«
»Wir kommen jetzt nach Phan Thiet. Die Stadt ist berühmt für Nước mắm , die Fischsauce.«
Es war widerwärtig! Wer sich den Geruch von monatelang in Fässern vor sich hin rottenden Garnelen und Sardellen vorstellt, kommt der Sache ziemlich nahe, denn genau so wird diese Spezialität hergestellt. Kurzzeitig befiel mich gar der Wunsch, der Hund hätte mir die Nase ganz abgebissen. Ganz anders Lien, die strahlte, als sei ihr gerade
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