Miss Seeton kanns nicht lassen
offenbar Gefallen daran. Kann sich nicht mehr so wie früher zusammennehmen. Aber das mit den kleinen Diebstählen verstehe ich nicht recht. Paßt gar nicht zu dem anderen.« Er blickte auf Sir Huberts Schreibtisch hinunter und schüttelte den Kopf. »Man stelle sich bloß vor: wir wären noch lange nicht daraufgekommen, wenn die meschuggene kleine Person mit dem Gesicht besser zu Rande gekommen wäre.«
Die Besprechung mit Dr. Knight hatte gar nichts ergeben: keinerlei Angstneurose, kein Anzeichen von Rheuma oder irgendwas, kein Versagen der Reflexe – eher das Gegenteil. Kein Anzeichen für Muskel- oder Sehnenzerrung, kein Anzeichen für Blutarmut, kein Anzeichen für die Nachwirkung eines Schlaganfalls und kein vernünftiger Grund zu der Annahme, daß ein Schlaganfall vorgelegen hatte. Eine ganze Sammlung von negativen Anzeichen und ein nicht vorhandener vernünftiger Grund, aus dem sich nichts schließen ließ, denn die Vernunft sagte ihr, daß irgend etwas los sein mußte, und die Besorgnis blieb.
Miss Seeton ging durchs Dorf zurück nach Hause und überlegte, was zu tun sei. Eins stand fest; sie mußte ihre Arbeit an der Schule sofort aufgeben und nicht bis nach den Sommerferien warten, wie es ihr Plan gewesen war. Heute abend noch wollte sie der Direktorin schreiben. Ihre Wohnung konnte sie kündigen, innerhalb einer Frist von vier Wochen. Aber wenn sie jetzt den Sprung wagte, alle Verbindungen in London aufgab und ganz in das kleine Dorf zog, wo der einzige Beruf, von dem sie etwas verstand, nicht gefragt war, und wenn die Preise wie üblich in die Höhe gingen und ihr Einkommen sich verringerte, wie es leider ebenfalls üblich war: Wie sollte sie dann auskommen? Wenn man sich nichts vormachte, gab es da nur eine Antwort: sie mußte einen neuen Beruf erlernen. Aber welchen? Ob sie vielleicht maschinenschreiben lernen konnte? Ob es wohl lange dauerte, bis man so etwas gelernt hatte? Und dann kam noch die Anschaffung einer Maschine hinzu. Andererseits konnte sie natürlich sehr gut ohne Martha auskommen, das würde auch etwas sparen; und wenn man sein eigenes Haus sauberhielt, dann konnte man natürlich auch bei anderen Leuten putzen, und >jemand fürs Grobe< – >Raumpflegerinnen< hießen sie ja wohl heutzutage, komisch, wie sich die Sprache änderte – war immer schwer zu finden. Am Schwarzen Brett in der Poststelle hingen eigentlich immer mehrere Zettel mit der Aufschrift >Haushaltshilfe gesucht<; aber daß mal >Haushaltshilfe geboten< wurde, kam so gut wie nie vor.
Sie lächelte freundlich und sagte: »Guten Morgen.«
Keine Antwort. Das blasse Gesicht blieb unbeweglich. Eine halbe Sekunde hatte das Mädchen im Vorbeigehen gezögert und sie mit den furchtsamen Augen gestreift.
Ach ja, das war das junge Ding aus dem Wagen, unter welchen Effie beinahe geraten wäre. So schüchtern… Oh, hier war die Poststelle; ihr fiel ein, daß ihr Kaffee fast alle war.
Mit der Kaffeetüte in der Hand blieb Miss Seeton im Laden stehen und besah sich das Büchergestell in der Mitte. Reichlich bunt, die Umschläge, sogar etwas grell; dabei gefielen ihr die weniger auffallenden meistens besser. Ja, da waren sie ja, die hatte sie doch schon mal gesehen, diese Blitzlehrgänge. Banklehre in 30 Minuten. Schöne Bank mußte das sein. Auch anderes gab es: Beherrschung der Gefühle in 30 Minuten – das war eigentlich reichlich lang. Sie überflog die übrigen Titel. Ja, da war’s: Maschinenschreiben in 30 Minuten. Ach, sie würde sicher länger brauchen. Sie nahm das Heft und trug es zum Ladentisch. Es war nicht teuer und brachte einen vielleicht auf Ideen. Beim Hinausgehen warf sie einen Blick auf das Schwarze Brett. Ja, da waren drei Zettel mit >Haushaltshilfe gesuchte und – tatsächlich, was für ein Zufall! Das kam wirklich nicht oft vor – ein Zettel, auf dem es hieß: >Hausarbeit gesuchte Miss Seetons Stimmung hatte sich gehoben. Leicht beschwingt schritt sie die Straße hinunter. Man mußte nur suchen, dann fand sich für die meisten Probleme eine; Lösung. Das ruhige Leben hatte eigentlich nur einen Nachteil: die geistige Elastizität ließ nach.
Was Dr. Knight von Miss Seeton und ihrem ruhigen Leben hielt, ging aus der Bitte hervor, die er nach dem Fortgehen seiner Patientin an seine Tochter Anne richtete: »Hat dein langer Freund von der Polizei nicht in irgendeinem Winkel noch einen ungelösten Mordfall rumliegen, mein Mädchen? Die kleine Miss Seeton war bei mir – ihr fehlt ein Wespennest zum Reinstechen,
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