Miss Seeton kanns nicht lassen
Seeton, erzählen Sie mir doch mal Ihren Kummer von Anfang an, ja?«
»Gern, ja. Ich hatte versucht, Effie Goffer zu zeichnen.
Martha hatte mir nämlich berichtet, Mrs. Goffer wollte gern ein Bild von ihr haben.« Sie lächelte ein wenig. »Martha meinte, das dürfe mir doch nicht schwerfallen. Aber das ist es ja gerade – es fällt mir außerordentlich schwer. Ich dachte, am besten ziehe ich mich mit irgend etwas Modernem aus der Affäre, wissen Sie, und nur hier und da eine Andeutung von Effie. Dreimal habe ich es versucht, und jedesmal kam dasselbe dabei heraus. Ganz schrecklich.«
»Darf ich es wohl mal sehen?« Miss Seeton zögerte.
»Bitte!« drängte Anne. »In London haben Sie doch offenbar genau das Richtige getan, nun wollen wir mal sehen, was man mit diesen Zeichnungen anfangen kann.« Und als Miss Seeton immer noch schwankte, riet sie freundlich: »Nur zu – her mit den Toten, damit wir sie anständig begraben können.«
Zögernd ging Miss Seeton zum Schreibtisch, zog die untere Schublade heraus und entnahm ihr eine dicke Mappe. Sie legten sie auf den Fußboden, lösten die Verschnürung und hockten sich dann daneben, um den Inhalt zu untersuchen.
»Ich glaube, ich hab’ sie irgendwo ganz unten reingeschoben«, meinte Miss Seeton, »weil sie so scheußlich waren. Aber wegwerfen mochte ich sie auch nicht – jedenfalls so lange nicht, bis ich begriffen hatte, was eigentlich los war.«
Anne war beim Umblättern und stieß plötzlich einen Schrei des Entzückens aus. »Oh – wann haben Sie dies hier gemacht? Das ist einfach himmlisch.« Miss Seeton lief blutrot an. >Dies hier< war eine Karikatur von Bob Ranger – mit völlig ratlosem Gesicht, im Fußballdreß, mit Ringelstrümpfen und flatterndem Schal; er jagte dahin, und die Rote Königin aus dem Wunderland – alias Miss Seeton – rannte vor ihm her, mit der einen Hand hielt sie seine Hand und mit der andern ihren Regenschirm gepackt. »Oh – könnte ich das von Ihnen kaufen? Es ist wirklich irrsinnig komisch – und so ganz Bob! Genauso sieht er oft aus.«
Miss Seetons Verlegenheit wich; sie freute sich. »Von kaufen kann keine Rede sein – aber wenn Sie es haben möchten, will ich es Ihnen gern schenken.«
Impulsiv beugte sich Anne vor und gab ihr einen Kuß. »Das ist sehr lieb von Ihnen.«
Die Röte vertiefte sich. »Unsinn. Ihr Vater war so freundlich zu mir, heute morgen – und dann wollte er keine Bezahlung annehmen, das war gar nicht recht und mir sehr peinlich.«
»Das konnte er auch nicht«, lachte Anne. »Er nimmt keine Privatpatienten mehr an, er arbeitet nur noch in beratender Funktion für die Klinik in Brettenden, und sonst nehmen wir nur Notfälle. Aber nun mal weiter – « Sie wandte sich wieder den Bildern zu. »Oh –!« Sie zog eine der Skizzen von Effie Goffer aus dem Haufen heraus. Miss Seeton hielt die beiden anderen in der Hand. Herrgott, dachte Anne, hätte sie doch bloß nichts von >Toten begraben< gesagt. Denn das war es, was sie vor sich hatte, man sah es deutlich – drei Totenbilder.
Es klopfte, und Miss Seeton erhob sich, ging zur Haustür und öffnete. Vor ihr stand eine Dame. Miss Seeton musterte sie hingerissen. Ungemein interessant, dieser Knochenbau des Gesichts. Ganz ungewöhnlich. Und wunderbare Farben – wunderbar aufgetragen jedenfalls. Bis auf die Augen, natürlich. »Ja –?«
»Bin ich hier richtig bei Seeton?« Miss Seeton blinzelte erstaunt. »Ja, ich bin…«
»Schön.« Mel Forby trat ein. Miss Seeton trat einen Schritt zurück.
»Wer ist da?« rief Anne.
Miss Seeton trat ins Wohnzimmer. »Ach lassen Sie nur, Anne – ich räume das schon auf.« Sie vergaß ihre Besucherin und ließ sich auf dem Boden nieder, um die Zeichnungen einzusammeln.
Mel Forby stand in der Tür und sah ihr zu. Natürlich – jetzt fiel es ihr wieder ein: Die kriegerische Seeton gab ja Zeichenunterricht. Das hier waren wahrscheinlich zwei ihrer Schülerinnen: eine vertrocknete ältliche Jungfer – sicher malte sie grüne Felder, blaue Himmel, und seitlich vielleicht eine Kuh – und dann diese Kleine da – Anne langte nach einem Blatt Zeichenpapier – aha, also kein Kind mehr, sondern ein junges Mädchen.
»Lassen Sie sich nicht stören; ich kann warten.« Sie sah sich um. Gott sei Dank, Möbel gab’s. Immerhin, besser man stellte sich auf guten Fuß mit den beiden – machte sich sozusagen mit den Eingeborenen vertraut. Bloß mit diesem engen Rock… Vorsichtig ließ sie sich auf die Knie nieder.
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