Miss Seeton kanns nicht lassen
»Kümmern Sie sich gar nicht um mich. Bloß wenn Ihre Lehrerin wiederkommt, hätte ich gern ein Wort mit ihr gesprochen.«
Anne starrte sie an. Dann sprachen sie und Miss Seeton gleichzeitig.
»Verzeihung«, sagte Anne, »Miss Seeton hat…«
»Verzeihung«, sagte Miss Seeton, »ich glaube, ich hatte Sie nicht ganz…«
Beide sahen sich an und sagten dann: »Verzeihung.« Beide hielten an.
»Entschuldigen Sie – mein Fehler. Ich komme vom Daily Neg… Also jetzt Moment mal. Sagten Sie Miss Seeton? Soll das heißen, daß das Miss Seeton ist?«
»Selbstverständlich«, sagte Anne.
Jetzt verlor selbst Mel Forby einen Augenblick die Fassung. »Ich brech’ zusammen. So was von Blamage – das bringt mich um, auf der Stelle. Die Müllabfuhr kann mich abtransportieren. Und schicken Sie die Rechnung an den Lokalredakteur von The Daily Negative – der hat mir dies eingebrockt, da kann er auch den Transport bezahlen.«
»Sie sind also Reporterin«, sagte Anne entrüstet. »Wie können Sie hier so hereinplatzen?«
Mel hatte sich gefaßt und grinste jetzt über das ganze Gesicht. »Aber Süße – ich bin doch ganz friedlich hereinspaziert. Wo ich hereinplatze, da wächst kein Gras mehr. Aber lassen Sie uns mal vernünftig reden. Ich bin hergeschickt worden, um meine bescheidenen Kräfte mit einer Kraftamazone zu messen, die als streitbare Schirmlady zu Ruhm gelangt ist, und darf mich nicht von der Stelle rühren, bis ich rausgefunden habe, wo der Holzwurm tickt.« Sie machte eine Geste in Richtung auf Miss Seeton. »Und das hier finde ich vor. Ich geb’s auf.«
Anne fühlte sich fast hingezogen zu der seltsamen Besucherin. »Warum kann man die arme Miss Seeton nicht in Ruhe lassen? Das ist wirklich nicht fair.«
»Was ist heutzutage schon fair? Wenn ich abzwitschere, kreuzt der nächste hier auf. Die Kehrseite des Ruhms ist die Presse. Also, nun mal raus mit der Story.«
»Es gibt gar keine Story«, protestierte Anne.
»Aber Kindchen, doch nicht mit mir! Bevor ich hierherkam, habe ich mich ein bißchen im Dorf umgehört und genügend Klatsch zusammenbekommen, um die Titelseite zu füllen. Miss S. ist verhaftet; sie ist gegen Kaution freigelassen; nein, aus Mangel an Beweisen; sie hat versucht, ein Kind unter einen Wagen zu schubsen…«
»Effie Goffer!« rief Anne. »Das kleine Biest denkt sich die tollsten Geschichten aus.«
Mel beobachtete Miss Seeton. »Nicht hingucken«, raunte sie Anne zu. »Was macht sie denn da?«
Anne wandte sich um. Für Miss Seeton war die Umwelt versunken. Durch Yogaübungen trainiert, hatte sie sich mit gekreuzten Beinen auf dem Boden niedergelassen. Mit der Mappe auf den Knien, ein Blatt Papier vor sich und den Zeichenstift in der Hand, war sie völlig vertieft in ihre Arbeit.
»Hallo, Miss S.« Mel Forby beugte sich vor und hielt ihr die Hand hin. »Ich bin Mel Forby, Miss S. Freut mich sehr.«
Beschämt sprang Miss Seeton auf. »Oh, Verzeihung. Wie unhöflich von mir. Aber es war so interessant – ich mußte es festhalten. Tut mir wirklich schrecklich leid, ich…« Sie sah das Tablett und sagte hastig: »Ich mache schnell frischen Kaffee. Dauert nur einen Moment.« Sie stellte die Tassen zusammen und blieb in der Tür stehen in der Ahnung, daß sie sich vielleicht nicht klar genug ausgedrückt hatte. »Die Knochen«, murmelte sie, lächelte und verschwand.
»Irgendwie find’ ich sie goldig«, sagte Mel. »Was meint sie mit den Knochen?«
Anne beugte sich vor und betrachtete das Blatt, an dem Miss Seeton gezeichnet hatte. »Ihre Knochen, nehme ich an.«
Mel lehnte sich ebenfalls nach vorn und musterte die Skizze. Mit kühnen scharfen Strichen war da Mel Forbys Gesicht erstanden, bis zu den glänzenden, weich schattierten Augen. Sie trat an den Wandspiegel und prüfte das Make-up ihrer Augen: lauter harte schwarze Striche. Sie zuckte die Achseln. »Na schön – vielleicht könnte ich wirklich so aussehen – « Sie nickte der Zeichnung zu –, »was nützte mir das schon? Im Zeitungsfach muß man hart sein und auch so aussehen, sonst ist man verratzt.«
Anne lachte leise. »Sie können ja mal versuchen, so auszusehen und sich trotzdem nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Das wäre doch ein hübscher Überraschungseffekt.«
Mel zögerte, warf noch einen Blick in den Spiegel und zog nachdenklich eine Augenbraue empor. »Daran könnte – vielleicht – etwas Wahres sein.«
Miss Seeton erschien mit dem Kaffee, und Mel nahm ihr das Tablett ab und setzte es
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