Miss Seeton kanns nicht lassen
ostentativ auf ein niedriges Tischchen vor dem Kamin. Miss Seeton kniete sich hin und legte etwas Holz nach, und Anne sammelte die Skizzen ein und schob sie in die Mappe, die sie neben sich behielt, als sie sich jetzt hinsetzten, diesmal auf Sessel.
Anne war nervös. Die Zeichnung von Effie Goffer ging ihr nicht aus dem Kopf, und jetzt hatte sich diese Mel Forby hier eingenistet. Wie konnte sie allein mit Miss Seeton reden? »Wann geht eigentlich Ihr Zug?« wandte sie sich an die lästige Besucherin.
Die nachgezogenen Augenbrauen hoben sich. »Tja – wenn sich hier ‘ne Suppe zusammenbraut, muß ich leider mitkochen. Tut mir leid, mein Engel, Sie werden sich für die nächsten Tage mit meiner Gegenwart abfinden müssen.«
Miss Seeton legte den Feuerhaken nieder und griff zur Kaffeekanne. »Was für eine Suppe denn?«
»Fangen wir doch mal an mit dem Leichenschauhaus in Lewisham. Die Yard-Leute haben Sie dahingebracht. Warum?«
Miss Seeton überlegte. Von Geheimhaltung konnte wohl keine Rede mehr sein, wo schon das ganze Dorf Bescheid wußte – wie Anne erzählt hatte. »Sie haben mich gebeten, eine Art Porträtskizze zu zeichnen, weil sie keine Fotos hatten. Offenbar gelingt es den Fotografen auch nicht immer, wenn sie tot sind. Ich meine die Opfer. Vielleicht wäre es am besten, wenn Sie sich mit Superintendent Delphick unterhielten«, schlug sie vor.
Anne war entrüstet. »Zu solchen Fragen haben Sie gar kein Recht.«
»Meinen Sie?« Mel wandte sich ihr zu. »Zufällig ist es aber mein Beruf, Nachrichten zu sammeln. Krumm oder gerade – kriegen tue ich sie.«
»Das ist es ja gerade«, gab Anne zurück. »Und wenn Sie sie haben, werden sie entstellt gebracht. Manchmal kommt es mir so vor, als ob die Zeitungen eigentlich nur an schlechten Nachrichten interessiert seien.«
Mel lachte. »Na klar. Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Gute sind überhaupt keine. Für die Presse jedenfalls.«
»Das meine ich ja. Auf die Dauer leben Sie also von den Gefühlen anderer Menschen.«
»Aber Anne«, mahnte Miss Seeton, »das würde Miss Forby bestimmt nicht tun. Ich meine, die Dinge entstellt wiedergeben. Sie hat einfach ihre Arbeit zu tun, nicht? Es stimmt wohl, daß die Zeitungen manchmal das Hauptgewicht auf – na ja, meinetwegen auf schlimme Nachrichten legen, aber das muß im Grunde doch an den andern Leuten liegen, nicht? Ich meine, wenn sie das nicht gerade brauchten, dann würden sie’s ja nicht kaufen, nicht? Die Zeitungen, meine ich. Wenn Miss Forby…«
»Sagen Sie einfach Mel, Miss S. Getauft bin ich Amelia, das ließ mir die Wahl: entweder gute Werke oder schlimme Absichten. Ich hab’ ein kleines t hineingemogelt, und damit sitze ich nun da. Na wennschon. Alle nennen mich Mel, meine Nichtfreunde sagen liebste Mel, und wer mich nicht ausstehen kann, setzt noch ein Darling hinzu.« Sie wandte sich an Anne. »Wir wollen uns doch nicht streiten, Kindchen. Sie sind für Miss S. ich bin für Miss S. wozu also die Aufregung?« Anne lächelte noch etwas zögernd. »Wenn wir alle Fakten haben, dann helfen wir ja auch gern – meistens. Wenn nicht, dann müssen wir uns eben selber helfen.« Sie zuckte die Achseln. »Mein Redakteur hat gesagt: Dieser Fall brauchte die Hand einer Frau. Allmählich begreife ich, was er meint. Also, fangen wir noch mal von vorn an, ja? Sie hocken da auf Ihren Bildern wie eine Tigerin vor ihren Jungen. Was ist los damit?« Sie zeigte auf die Mappe und lachte. »Wenn mich nicht alles täuscht, dann sind Sie irgendwo an einem toten Punkt angelangt. Stimmt’s?«
Anne blickte überrascht auf, aber Miss Seeton hatte nun genug. »Nein, das sind nichts als Skizzen und flüchtige Entwürfe. Die Mappe enthält rein persönliche Sachen.«
Mel schrie entzückt auf. »Rein – und persönlich? Das ist das erste Mal, daß einer mein Gesicht rein nennt, und bisher habe ich es immer für mein persönliches Eigentum gehalten.«
Ogottogott. Miss Seeton wand sich. Natürlich, die Skizze von den Gesichtskonturen. Ogottogott, das hätte sie nicht tun sollen. Furchtbar ungehörig. Irgend etwas hatte sie gedrängt. Es war so ein ungewöhnliches Gesicht: Die Augen paßten überhaupt nicht zu dem übrigen. Vielleicht nicht allzu wichtig, aber sie paßten nicht. Die harten dunklen Striche zerstörten das Grundthema der Züge: ein deutlicher Widerspruch. Aber das durfte man natürlich nicht sagen – das würde ja ein Kritisieren bedeuten. »Die Knochen«, murmelte sie, fing Mels Blick auf,
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