Miss Seeton kanns nicht lassen
Miss Seeton sprang auf die Böschung und zog sich hoch, ein Fuß rutschte aus, sie hielt sich fest und ließ den Schirm fallen. Du liebe Zeit. Sie wandte den Kopf, und die Augen weiteten sich vor Schreck: O nein, nicht – bitte nicht! Der Wind hatte die Führung übernommen, der Schirm jagte schaukelnd aufsein Ziel zu. Jemand rief etwas, ein heller Schrei folgte, kreischende Bremsen auf der glatten Straße, Flüche und wieder ein Schrei, als die Schirmspitze auf die Windschutzscheibe prallte, sie durchbohrte und den Fahrer auf die Nase traf, die sofort zu bluten begann. Der Wagen schwang zur Seite, schien einen Augenblick überrascht in der Luft zu halten, bevor er sich neigte, fiel – noch ein Schrei – und in den Kanal stürzte. Entsetzlich. Ogottogott, wie entsetzlich. Und olles ihre Schuld. Miss Seetons Herz jagte, und jetzt jagten auch ihre Füße die Böschung hinunter, allzu schnell. Es regnete in Strömen. Die Schuhe waren durchgeweicht, das Gras schlüpfrignaß. Der Wind kam immer noch hilfreich von hinten und schob sie vorwärts. Sie versuchte anzuhalten, doch es war zu spät. Tapfer ruderte sie durch die Luft und landete platschend neben dem Wagen im Kanal.
Vor einem Haus, etwas weiter unten an der Straße, parkte ein Streifenwagen. Delphick steuerte darauf zu und las den Namen auf der Gartenpforte. Lilikot? Das war nicht die Adresse, die man ihm gegeben hatte. Jetzt erkannte ihn der Fahrer, der im Wagen saß, und wollte aussteigen, aber der Superintendent winkte ab.
»Hat keinen Zweck, daß wir beide ersaufen. Wenn Ihre Polster keinen Schaden nehmen, setze ich mich einen Augenblick zu Ihnen.« Er öffnete die Tür und ließ sich auf den Sitz fallen. »Was ist hier los?«
Dieser zweite Einbruch, so erfuhr er, war gemeldet worden, als der Inspector in Ashford zusammen mit einem Sergeant noch den ersten Einbruchsfall untersuchte. Hauptsächlich Silber und Schmucksachen, meinte der Fahrer. Jetzt wurde über die Sprechanlage die Wagennummer durchgegeben; der Fahrer stellte die Anlage etwas lauter. »Einbruch, Glenvale House, eine Meile vom Dorf entfernt auf der Straße nach Brettenden. Auch ein Wagen gestohlen«, meldete die Stimme. »Der Name ist Farmint. Er ist in heller Aufregung.« Der Fahrer wollte seine Tür öffnen, doch Delphick hielt ihn zurück.
»Ich werd’s dem Inspector melden. Und werd’ ihm auch sagen, daß Mr. und/oder Mrs. Farmint sehr aufgebracht ist oder sind. Wenn wir hier fertig sind, werde ich mit Ihnen zu den Farmints fahren. Bitte nehmen Sie alle Meldungen für mich an.«
»Jawohl, Sir, gerne.«
Delphick stieg aus, lief schleunigst auf die Haustür von Lilikot zu und klingelte.
Miss Seeton kam mühsam auf die Füße. Ogottogott, die armen Leute da im Wagen. Sie mußte ganz schnell hin und sehen, was sie tun konnte. Wenigstens waren sie nicht ertrunken, denn das Wasser reichte ihr kaum über die Knie. Wenn sie bloß die Tür aufbekam. Das war jedoch unnötig; beide Türen standen weit offen. Niemand war im Wagen. Sicher waren sie herausgeschleudert worden. Und vielleicht doch ertrunken. Einer der Scheinwerfer brannte noch unter Wasser. Sie überlegte flüchtig, wie das möglich sei; Wasser und Elektrizität vertrugen sich doch sonst nicht. Aber jedenfalls konnte sie etwas sehen. Sie sah sich um. Bewegte sich da etwas? Ja, da drüben, auf der anderen Seite, gerade jenseits des Lichtstrahls. Eine Gestalt tauchte aus dem Kanal und kletterte die Böschung hinauf, eine zweite folgte, glitt aus und rutschte zur Seite. Einen Augenblick wurde nasse Kleidung sichtbar, die an einer schmalen Mädchengestalt herunterhing. Lange dunkle Haarsträhnen. Von oben kam eine helfende Hand und wurde ergriffen. Beide Gestalten erklommen den Rest des Weges und verschwanden im Dunkel. Etwas zischte leise. Der Scheinwerfer ging aus.
Mit einiger Erleichterung verließ Delphick das Haus Lilikot und machte sich mit dem Inspector aus Ashford auf den Weg zum nächsten und, wie er inständig hoffte, letzten Einbruch dieser Nacht. Wie aufgeregt auch die Farmints sein mochten, ihre Aufregung konnte kaum größer sein als die von Miss Nuttel und Mrs. Blaine. Ihrem Wortschwall hatte Delphick entnommen, daß die unter den gestohlenen Kostbarkeiten am meisten betrauerten Gegenstände Miss Nutteis Kameebrosche – von einer Tante geerbt – und Mrs. Blaines einfach himmlische silberne Teekanne waren, ferner ein völlig unersetzlicher Rubinring in Gold, ein Familienerbstück, der von Mrs. Blaines Großmutter
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