Miss Seeton kanns nicht lassen
den Straßenrand gerichtet, Lady Colveden auf die Mitte der Fahrbahn. Sie hoffte von Herzen, daß nichts passiert war. Es war doch gar nicht möglich. Die Ärmste – sie mußte irgendwohin gegangen sein und nicht auf die Zeit geachtet haben. Aber wie kam sie dann bloß nach Hause? Und kalt war es auch.
Laut erklangen die Zimbeln. Miss Seeton regte sich. Noch halb im Schlaf hörte sie Stimmengemurmel und sah flimmernde Bilder. Sie schüttelte ein paarmal den Kopf und konzentrierte sich auf die Leinwand. Ein Gesicht schwamm nach vorn, wuchs und beherrschte die Szene. Überrascht blinzelte Miss Seeton. Tiefverschattete Augen fieberten. Sinnliche Lippen lockten.
»Deine Weisheit schlummert nur«, verkündete das Gesicht. »Komm, ich will dich erwecken.«
Miss Seeton gehorchte dem Ruf und setzte sich aufrecht hin. Gott sei Dank – einen Augenblick hatte sie fast gedacht, sie sei eingeschlafen. Nein, nein, jetzt wußte sie es wieder. Das war König Salomon, und sie hatte ihn schon einmal gesehen. Schon einmal…? Sie warf einen Blick auf die Uhr über der Ausgangstür. Wieder schüttete sie den Kopf und sah dann noch einmal hin. Das war doch nicht möglich – zwanzig vor elf? Ogottogott, das war ja entsetzlich! Sie mußte den ganzen Film verschlafen haben und war jetzt wieder an der ersten Stelle. Verstört sprang sie auf die Füße, stolperte über die letzten drei Besucher in ihrer Reihe und lief den Mittelgang hinauf und hinaus auf die Straße. An der Bushaltestelle prüfte sie den Fahrplan, der ihr erst am nächsten Morgen einen Bus in Aussicht stellte. Was nun – ein Hotel? Sie hatte ja gar nichts bei sich, nicht mal eine Zahnbürste. Das Zahnloch fiel ihr ein, und sie schloß den Mund. Ein Taxi nehmen? Aber wo finden? Und außerdem wäre das sicher schrecklich teuer. Auf der anderen Seite stand ein Wegweiser mit Zeigern nach London, Sevenoaks, Tunbridge Wells. Sie wollte schon weitergehen, als sie einen kleineren Arm des Wegweisers bemerkte, der auf einen abfallenden Weg zeigte, und die Aufschrift Plummergen 5 3/4 Meilen trug. Natürlich – das mußte der Weg sein, der zu der Straße am Kanal führte, die unten an ihrem Garten entlanglief. Sollte sie es wagen? Sie wühlte in ihrer Handtasche. Ja, die Taschenlampe hatte sie mit. Also dann los, und wenn sie zum Kanal kam, verlief er ganz gerade, das mußte die Straße also ebenfalls tun. Immerhin: Noch vor einem Jahr hätte sie so was niemals ins Auge gefaßt. Aber die Lage hatte sich geändert, oder vielmehr: sie hatte sich geändert. Obwohl manche der Positionen seltsam und oft sogar peinlich waren – es war nicht zu leugnen, daß Durch Yoga jünger jeden Tag einen beträchtlichen Wandel herbeigeführt hatte. Sie hatte allen Grund, der Werbeanzeige dankbar zu sein, die ihr damals in der Zeitung aufgefallen war: Haben Sie steife Knie? Das hatte sie weiß Gott gehabt. Und jetzt waren sie nicht mehr steif, sie konnte sie also wirklich mal auf die Probe stellen. Ein flotter Spaziergang – na ja, vielleicht lieber nicht allzu flott. Es waren immerhin fünf Meilen. Fünfdreiviertel. Aber ein kräftiges und stetes Ausschreiten würde die Blutzirkulation fördern und sie aufwärmen. Miss Seeton überquerte die Straße und begann, den kurzen, steil abfallenden Weg hinunterzugehen, der zur unteren Straße führte. Ja, es war alles in Ordnung. Sie hatte den warmen Mantel an, und es war jedenfalls besser als herumzustehen, denn – ehrlich gesagt – es war wirklich recht kalt.
»Sind Sie sicher, Sir George, daß sich Miss Seeton auf dieser Straße befindet?«
»Nein.«
»Oh.« Das erstaunte Arthur Treeves; darüber mußte er nachdenken. »Wäre es dann nicht viel besser, wir führen dorthin, wo sie ist?«
»Zweifellos. Wenn wir wüßten, wo sie ist.«
»Ja, natürlich. Ich verstehe.« Er verstand nichts. Eine Eule strich quer über die Straße. Der Pfarrer fuhr aufgeregt herum. »Lang – ganz bestimmt, das war eine Langohreule, glauben Sie nicht?«
Sir George fuhr gelassen weiter. Hoffentlich war die kleine alte Dame unversehrt und irgendwo unter Dach. Verdammt kalte Nacht. Und dann noch dieser Wind.
Es mag stimmen, daß die Entfernung von Plummergen nach Rye fünfdreiviertel Meilen beträgt; aber die Angabe stammte ‘, vermutlich von einer Krähe, die es eilig gehabt hatte. Miss Seeton hatte es zwar ebenfalls eilig, besaß jedoch weder den Ortssinn noch die Flügel der Krähe. Die Straße jedenfalls ist für Verkehrsmittel gedacht, die es nicht eilig haben.
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