Miss Seeton kanns nicht lassen
Lastwagen hielt an; der Junge sprang ab und machte ihr ein Zeichen, sitzen zu bleiben. Miss Seeton blickte ihm nach. Er schritt in ein kleines Häuschen, in dem jetzt ein Licht anging. Einen Augenblick später wurde auch oben ein Fenster hell. Natürlich – er war sicher zu seiner Frau gegangen, um ihr die Sache zu erklären. So ein freundlicher junger Mann, und so rücksichtsvoll. Sie spähte durch die Windschutzscheibe nach draußen in den Regen. Also – das war doch – natürlich! Sie standen an der Kanalbrücke, die zu ihrem Haus führte. Nach knapp zwei Minuten kam der Junge zurück. In der offenen Haustür stand eine schmale mädchenhafte Gestalt, die schüchtern grüßend die Hand hob, dann schloß sich die Tür wieder. Miss Seeton kämpfte mit dem Türgriff an ihrer Seite und kletterte hinaus. Schnell kam der Junge um den Wagen herum und half ihr.
»Sie sind wirklich furchtbar nett zu mir gewesen«, sagte sie. »Ich bin Ihnen so dankbar. Aber ich wohne hier ganz in der Nähe, ich kann jetzt leicht zu Fuß hingehen.« Sie wühlte in der durchweichten Tasche und brachte den Schlüssel hervor. »Wissen Sie, es wäre auch besser, nicht vorzufahren, sonst wacht vielleicht jemand auf von dem Lärm. Wenn ich allein hineinschlüpfe, dann merkt das niemand.« Sie blickte an sich herab. Alles triefte und tropfte; der schöne Hut mit dem Aufschlag vorn war jetzt gar nicht mehr schön, und der Aufschlag – immer noch deutlich erkennbar – hing ihr wie eine trübe Traube in die Stirn. »Und dann bin ich ja auch ziemlich naß, nicht wahr?«
Der Anflug eines Lächelns erschien auf dem jungen Gesicht. »In Ordnung«, sagte er. Sie wollte ihm zum Abschied die Hand geben, aber er nahm sie nicht. Sie wandte sich zum Gehen. Er folgte. Gemeinsam patschten sie den Weg hinunter bis zu ihrem Haus, wo sie die Seitenpforte aufschloß und eintrat. Er folgte. Sie hielt ihm die Hand entgegen. Er ignorierte sie. Die Pforte fiel ins Schloß, und sie gingen durch den Garten zur Küche. Miss Seeton schloß auf und wollte sich verabschieden. Er beachtete sie nicht und trat ein. Sie folgte ihm. Er drehte das Licht an, öffnete Türen, blickte in die Zimmer. Sie setzte zum Reden an, aber er ignorierte sie und ging nach oben. Sie folgte. Er fand das Badezimmer, drehte den Wasserhahn auf und machte ihr Zeichen in Richtung auf ihr Schlafzimmer. Miss Seeton nahm ein Handtuch und legte es auf den Boden, zog ihre nassen Sachen aus und ließ sie auf das Handtuch fallen, nahm ihr Nachthemd und zog den Morgenrock an. Wirklich, er war zu und zu freundlich, der Junge. So richtig fürsorglich. Sie ging ins Badezimmer. Der Junge war verschwunden.
Das Ausruhen im heißen Wasser war wundervoll. Was für ein Segen dieser Sieder war, den Flora damals noch installiert hatte. Trocken und erholt kam sie ins Schlafzimmer zurück. Die nassen Kleider waren verschwunden. Auf dem Handtuch war der Inhalt ihrer Tasche ausgebreitet; darunter – im Plastikbeutel – die zweite Tablette, die ihr Dr. Geldson gegeben hatte. Ach ja, die sollte sie ja vor dem Schlafengehen nehmen. Ja, das wollte sie jetzt tun. Obgleich sie eigentlich gar keine Schmerzen mehr fühlte. Aber sie hatte ja auch an anderes zu denken gehabt. Sie stieg ins Bett, nahm die Tablette und wollte sich gerade aus der Karaffe auf dem Nachttisch etwas Wasser einschenken, als der Junge hereinkam. In der Hand trug er ein dampfendes Glas, das er ihr reichte. Sie faßte es oben am Rand an. Dunkelgelb war die Flüssigkeit und sehr heiß. Sie schob sich die Tablette in den Mund, nahm einen Schluck – und verschluckte sich. Ogott-ogott. Sehr heiß, wirklich. Und es brannte auch so, innen. Und schmeckte nicht gut. Aber es durchrann sie – richtig schön warm. Sie hielt ihm das Glas hin. Er schüttelte den Kopf. Wieder setzte sie vorsichtig an und trank. Nein, es schmeckte nicht gut, aber innerlich tat es sehr wohl. Komisch. Die Decke war ganz schräg, mehr als sonst. Das Bett erhob sich in die Luft, kam herunter und stieg noch einmal auf. Nur gut, daß sie niemals seekrank wurde. Zwei Jungen standen an ihrem Bett, beugten sich zu ihr, nahmen ihr die beiden Gläser aus der Hand.
»Schu nett«, murmelte sie schläfrig.
Drei Jungen knipsten drei Lichtschalter aus und verließen das Zimmer. Miss Seeton fiel zurück in die Kissen.
Hinter der Gardine eines Fensters im Hause Saturday Stop brannte Licht. Auf das Klingeln der Polizisten öffnete Doris Quint, im Morgenrock und den Kopf mit einem Handtuch umwickelt,
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