Miss Seeton kanns nicht lassen
die Tür und blickte die triefnassen Männer ablehnend an.
»Polente? Mitten in der Nacht? Was ist denn los?« Die Beamten erklärten. Doris zeigte sich entrüstet, verstand auch gar nicht, was das alles mit ihr zu tun haben sollte. Sie konnte die Besucher nicht hereinbitten, da sie, wie man sah, nicht angezogen sei; sie habe sich nämlich vor dem Schlafengehen die Haare gewaschen. Am Tage kam sie nie zu so was, da gab es viel zuviel zu tun. Überdies schlief jetzt ihr Mann schon, und der Junge war auch im Bett, die Herren mußten also Verständnis haben. Sie hatten keinen Haussuchungsbefehl und mußten die ganze Zeit im strömenden Regen draußen stehenbleiben, während Doris von der Krankheit ihres Mannes berichtete, von seinem Bedürfnis nach Ruhe und der Gefahr einer Ruhestörung, von den Schwierigkeiten mit dem kleinen Bruder und den eigenen Kümmernissen, und manchmal wisse sie selbst nicht, wie sie alles schaffe. Der Redestrom riß nicht ab. Die Beamten erfuhren nichts. Und damit mußten sie sich – weder beeindruckt noch überzeugt – schließlich bescheiden. Sie unterhielten sich im Wagen weiter über die Frau und ihren spontanen Ausruf »Polente?« – offenbar ein Zeichen, daß es nicht ihre erste Begegnung mit den Hütern von Recht und Ordnung gewesen war. Vielleicht hatte sie sich wirklich die Haare gewaschen; vielleicht trocknete sie sie auch nur, weil sie im Regen draußen gewesen war, obgleich man wohl annehmen konnte, daß sie bei solchem Wetter nicht ohne Kopfschutz hinausging. Möglich, daß ihr Mann schon schlief, aber auch denkbar, daß er nicht gesehen werden wollte oder gar nicht da war. Auf so vagen Verdacht hin konnten sie jedenfalls nicht darauf bestehen, daß er an die Tür kam. Und der kleine Bruder war vermutlich zu jung, noch fast ein Kind. Der Inspector aus Ashford erinnerte Delphick daran, daß die ganze Familie für die Zeit des Postraubs ein Alibi hatte.
Delphick knurrte. »Ja, ich weiß, ‘ne Ausflugsfahrt. Im März.«
Der Streifenwagen setzte ihn am George and Dragon ab und fuhr dann weiter. Delphick war immer noch unentschlossen und zögerte: Sollte er schlafen gehen und mit allem weiteren bis morgen früh warten, wie es nur vernünftig war; oder sollte er jetzt eine Anzahl übermüdeter Männer in die scheußliche Nacht hinaushetzen und meilenweit das Land absuchen lassen? Damit würde er zwar sein Gewissen beruhigen, aber nützen würde es nichts. Sie konnte ja wirklich überall sein: meilenweit entfernt oder ganz in der Nähe, irgendwo vom Sturm festgehalten oder auch – angesichts ihrer unheimlichen Fähigkeit, sich ebenso phantastisch aus Schwierigkeiten herauszuwinden, wie sie sich hineinmanövrierte – womöglich irgendwo fest schlafend in einem molligen Bett, das ihr ein guter Samariter zurechtgemacht hatte.
Er blickte zu ihrem Haus hinüber und entschloß sich spontan, noch einmal einen Blick hineinzuwerfen und sich zu vergewissern, daß weiter nichts vorgefallen war; dann wollte er seine Entscheidung treffen. Er hatte mit den Kollegen vereinbart, die Haustür zwar zuzumachen, aber nicht abzuschließen, denn es schien unwahrscheinlich, daß heute noch einmal jemand einbrach. Vor allem wollten sie, falls Miss Seeton gefunden wurde, imstande sein, schnell hineinzukommen, ohne erst Martha Bloomer – womöglich tief in der Nacht – wecken zu müssen.
Sobald Delphick die Tür öffnete, spürte er eine Veränderung. Es wirkte nicht mehr wie ein leeres Haus. Irgendwas…. ja, es roch nach nassen Kleidern, und zwar aus der Küche. Ordentlich über Tisch und Stühle ausgebreitet fand er dort Miss Seetons triefnasse Kleider. Die Handtasche, leer und umgekehrt, stand tropfend auf dem Ablaufbrett neben einem ausgespülten Glas. Im Ausguß stand ihr Regenschirm.
Er kehrte um, warf einen schnellen Blick in die andern Räume und lief dann nach oben. Ohne Rücksicht auf Schicklichkeit riß er die Schlafzimmertür auf und knipste das Licht an. Wie angewurzelt blieb er stehen und starrte auf das Bett. Miss Seeton beachtete ihn gar nicht. Sie schlief fest.
Sein Blick fiel auf den Fußboden und auf das Durcheinander des Handtascheninhalts, das dort lag. Er kniete nieder. Was war das da – ein Ring? Er hatte noch nie einen Ring an ihrer Hand gesehen. Vielleicht ein Ring ihrer Mutter oder Patin, den sie aus Anhänglichkeit bei sich trug, ein Erb… Erbstück? Ein roter Stein in Gold? Ein echtes Erbstück? Sie hatte doch nicht etwa…. war es denkbar, daß sie auch diesmal die
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