Miss Seeton kanns nicht lassen
In der Küche nahm sie Miss Seetons immer noch feuchte Überkleidung und bündelte sie für die Reinigung zusammen. Sie setzte den Kessel auf, schnitt Brot, nahm die Butter aus dem Kühlschrank, fand die Marmelade und deckte den Tisch zum Frühstück. Dann ging sie ins Wohnzimmer. Der Sergeant war bei Tagesanbruch ins Gasthaus zurückgekehrt und hatte alles tadellos hinterlassen. Sie rief ihn an und berichtete, Miss Seeton sei wach, aber noch nicht fertig angezogen und habe auch noch nichts gegessen. Ja – vielleicht noch eine halbe Stunde. Sie legte den Hörer auf. Das Telefon klingelte: die Colvedens. Das Telefon klingelte: Miss Treeves. Das Telefon klingelte: Anne Knight. Das Telefon klingelte: Delphick. Mel erledigte alles. Sie holte auch die Post von dem Tischchen im Flur und legte sie auf Miss Seetons Teller. Sieh mal an: ein amtlich aussehender Umschlag mit der Aufschrift: Miss Ess, Sweetbriars, Plummergen/Kent.
Mel sorgte dafür, daß Miss Seeton ihr Frühstück in Ruhe verzehrte; sie bezwang ihre Neugier und stellte auch keine Fragen nach dem gestrigen Abend. Dann deckte sie den Tisch ab und spülte das Geschirr, wobei sie Miss Seetons Hilfe strikt ablehnte, da ja, wie sie warnend bemerkte, Bob gleich erscheinen werde und man dann nach Ashford fahren müsse. Miss Seeton ergab sich in ihr Schicksal; die Fahrt war zwar lästig, aber offenbar notwendig. Wenigstens konnte sie dann den Ring abgeben, den sie so gern loswerden wollte. Und danach war dann Schluß mit der ganzen Sache. Sie nahm ihre Post in die Hand. Ein amtlicher Umschlag – komisch. Dann erhellte sich ihr Gesicht, sie lächelte und öffnete den Umschlag. Ein Scheck war darin und ein kleiner Brief. Mel stand am Spülstein und beobachtete sie. Miss Seeton las den Brief, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Sie sah prüfend den Scheck an, hob ihn näher an die Augen und stieß verstört ein halblautes »Oh!« aus. Der Brief war außerordentlich freundlich, wirklich, wenn auch ganz unverdient. Delphick erklärte darin, er und auch Sir Hubert Everleigh seien der Ansicht, die Zeichnung der kleinen Goffer sei ein Bestandteil der Polizeiakte. Wenn sie also nichts dagegen habe, so wolle man sie behalten. Der Scheck sei auf den doppelten Betrag ausgestellt, da es sich ja um zwei Skizzen handele. Der Scheck jedoch… Ogottogott. So großzügig, wirklich… Wieder betrachtete sie das Formular. Ja, sie hatte sich nicht geirrt, die Unterschrift lautete i.A. für die Vollzugsbehörde der Metropolitan Police. Das war ja furchtbar. Es war natürlich kein Geheimnis, daß die Dinge nicht zum besten standen und daß die Polizeibeamten unterbezahlt wurden. Aber daß die Vollzugsbehörde schon eingesetzt war – Gerichtsvollzieher…. für so schlimm hatte sie es doch nicht gehalten. Natürlich würde sie den Scheck nicht einlösen, das kam ja nicht mehr in Frage, aber ob man vielleicht eine kleine Spende schicken sollte? Miss Seeton sah grübelnd vor sich hin.
»Was ist los, Schatz?« fragte Mel.
Wie unangenehm. Sollte sie es sagen? Vielleicht war das der Polizei gar nicht recht. Andererseits: Die Presse wußte doch immer alles und war immer sehr vorsichtig mit allen Informationen. Delphick konnte sie jedenfalls nicht fragen, das war ausgeschlossen, und der reizende Sergeant würde sie vielleicht nicht ganz verstehen. Miss Forby hingegen…. gut also: Mel… Ach ja. Mel würde ihr sicher raten können. Sie gab ihr den Scheck und erklärte ihr Dilemma. Mel tat ihr möglichstes, die Fassung zu bewahren, doch es gelang ihr nur kurze Zeit; dann fiel sie auf einen Stuhl und schrie vor Lachen.
»Kein Mensch außer Ihnen wäre auf so eine Idee gekommen! Der Pleitegeier in Scotland Yard! Einfach unbezahlbar.« Sie wischte sich die Lachtränen aus den Augen.
Miss Seeton lächelte etwas unsicher, war aber doch sichtlich erleichtert, als Mel ihr erklärte, daß diese Vollzugsbehörde mit dem Gerichtsvollzieheramt nichts zu tun habe, sondern die Finanzverwaltung der Londoner Polizei sei.
»Wieso steht da >Miss Ess« erkundigte sich Mel dann.
»Das muß so sein. Das machen ja heute alle. Offiziell jedenfalls.«
»Was machen heute alle?« fragte Mel.
»Anreden mit Anfangsbuchstaben. Früher waren es Ausnahmen – höchstens mal S. M. für Seine Majestät oder so, aber heute wird das doch überall gebraucht. Bloß in meinem Fall, da wäre es schlecht gewesen: M. S. das hätte ja auch Manuskript heißen können, da hätte es dann Verwirrung gegeben, nicht wahr?
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