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Miss Seeton kanns nicht lassen

Miss Seeton kanns nicht lassen

Titel: Miss Seeton kanns nicht lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heron Carvic
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aber das Gefühl, sie hat es fertig gemacht, ohne es zu wissen. Ich finde, es ist komplett, so wie es ist.«
    »Finden Sie?« Mit dem Fuß zog sich Dr. Knight einen Stuhl heran und nahm Platz. Er blickte Delphick über den Tisch hinweg an. »Dann würde ich sagen, man sollte mal in Ihr Gehirn hineinleuchten. Halten Sie was von so übersinnlichem Zeug? Oder tut die Seeton das vielleicht?«
    »Wäre das so unsinnig, meinen Sie?«
    Dr. Knight runzelte die Stirn. »Blabla. Aber ich bin ja auch nur ein kleiner Neurologe. Wer ist dies hier überhaupt?«
    Delphick berichtete, wie Miss Seeton die Schulkinder gezeichnet hatte, und erzählte dem Arzt von seinem Verdacht und den Gründen und wie er sie schließlich um diese letzte Skizze gebeten hatte, als er merkte, daß dieses eine Kind ausgelassen worden war.
    »Kind?« sagte Dr. Knight knapp. »Das hier ist kein Kind.« Er tippte mit dem Finger auf die Zeichnung. »Unterentwicklung – Typ Lorain-Levy, möchte ich annehmen.« Als er Delphicks fragenden Blick sah, fügte er ungeduldig hinzu: »Ein zurückgebliebener Mensch, was Entwicklung und Körperbau angeht. Das heißt, wenn dieses Bild ihn richtig darstellt und überhaupt irgend etwas bedeutet. Sieht aus wie etwa achtzehn, neunzehn.«
    Jetzt fiel es auch Delphick ein: »Wissen Sie was, Dr. Knight – für mich war das tatsächlich auch niemals ein Kind.« Er rechnete nach. »Sagen Sie, wenn das Alter stimmt – mit diesem Handicap…. der Junge ist taubstumm von Geburt –, wäre es da möglich, daß die Pubertät eine Rolle mitspielt? Könnten die Entwicklungsjahre ihn ungünstig beeinflussen und verursachen, daß er diese Ausbrüche hat? Ich meine, wäre es denkbar, daß der Mord an Kindern für ihn eine Art Ersatz darstellt? Der Mord an Menschen seiner eigenen Größe als – vielleicht als Selbstbestätigung? Ist so etwas möglich?«
    »Pubertät? Nein.« Dr. Knight schüttelte den Kopf. »Die Lorain-Levy-Typen sind sexuell meistens infantil, bei sonst normaler Intelligenz. Aber ich bin natürlich keine Autorität; ich habe mich mit diesen Sachen nie beschäftigt und habe nicht viel Ahnung davon. Nur: Eine verminderte Tätigkeit der eosinophilen Zellen braucht noch nicht das Gehirn zu beeinträchtigen. Und die Taubheit hat damit gar nichts zu tun – reiner Zufall bei der Geburt. Wie redet er denn? Haben Sie eine Ahnung, wo er zur Schule gegangen ist?«
    Delphick dachte nach. »Soviel ich weiß, kann er überhaupt nicht reden. Ich glaube auch nicht, daß er irgendwo zur Schule gegangen ist. Wahrscheinlich hat ihn seine Schwester immer zu Hause behalten, bei sich.«
    »Aha«, sagte der Arzt nachdenklich. »Dann liegt die Sache natürlich anders. Ihre Idee ist zwar medizinisch nicht zutreffend, könnte aber in diesem Fall dann doch hinkommen. Wissen Sie, die Crux bei jeder Art Verkrüppelung ist, wie einer damit fertig wird. Wenn dieser junge Mann immer noch an der Schürze seiner Schwester hängt – sie ist doch übrigens verheiratet, und er lebt mit ihnen zusammen, nicht wahr? –, dann wäre es denkbar, daß ihm allmählich der Kamm schwillt, da er ja kein Kind mehr ist. Es ist eben grundfalsch, Menschen von sich abhängig zu machen. Denken Sie an eine Mutter mit einem einzigen Sohn: wenn sie den ewig unselbständig und von sich abhängig hält, kriegt sie irgendwann einmal von ihm einen Tritt in die Schnauze oder sonstwohin. Und das hier klingt mir ganz ähnlich. Wenn sie den Jungen sein Leben lang an der Leine gehalten hat, könnte ich mir durchaus vorstellen, daß er sich jetzt mal die Hörner abstoßen möchte. Irgendwas unternehmen, um es ihnen zu zeigen. Nach Ihrer Beschreibung schließe ich auf eine Paronoia, verursacht durch ein angeborenes Handikap – in diesem Fall also die Taubheit – und verstärkt durch die Umstände einer blödsinnigen Erziehung – bis zur Psychose. Hm. Der Junge kann im Grunde nichts dafür, Schuld hat allein die Schwester. Tut mir leid, daß ich Ihnen weiter nicht helfen kann…« Er schob zwei der Skizzen in die Mappe und behielt die dritte in der Hand, als er aufstand. »Aber ein glattes Ja oder Nein gibt es bei dieser Art Fragen nicht. Immerhin – «, er blickte Delphick in die Augen, »wenn Sie meine Ansicht hören wollen, inoffiziell und unvoreingenommen – nach Ihrem Bericht also würde ich sagen: Ja, Sie haben vermutlich recht.« Er warf noch einen Blick auf die Skizze und schob sie dann zu den andern in die Mappe. »Sehr unerfreulich.« Er reichte Delphick die Mappe.

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