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Miss Seeton kanns nicht lassen

Miss Seeton kanns nicht lassen

Titel: Miss Seeton kanns nicht lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heron Carvic
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diese Bankgeschichte. Und dies buschige hier, das so schwer herausging. Sie riß energisch an dem Büschel. Eigentlich unerhört – als Kassierer in einer Vertrauensstellung… Ach, diese Quecken, die gingen überhaupt nicht heraus; Mr. Greenfinger nannte sie anders, wie doch noch…? Wo war sie…. ja, Vertrauen. Das war wirklich noch viel schlimmer. Etwas ganz Schreckliches. Stan Bloomer ging mit der Gartenwalze vorüber. Miss Seeton blickte ihm nach. Ein schweres Ding war das, sie konnte es nicht mal von der Stelle bewegen. Sie war geradezu unruhig geworden, zuerst jedenfalls, als Stan sie neulich fragte, ob er die Walze einen oder zwei Tage an der Glastür stehenlassen könne, bis man den Boden walzen könnte. Sie hatte Angst gehabt, das Ding könne womöglich von selber den Rasenabhang hinunterrollen. Aber Stan hatte ihr gezeigt, daß es ganz sicher war; er hatte ein dreieckiges Holzstück genommen – Hemmer nannte er das, oder hieß es Himmer? Sie konnte oft kaum verstehen, was er sagte. Wenn er überhaupt was sagte – meistens lächelte er nur sehr freundlich und sagte: »Ah.« Gewöhnlich wußte man, was er sagen wollte. Hier ja auch das Ding saß fest. Der Hemmer. Unter der Walze.
    Ein Schatten fiel über das Beet. Miss Seeton blickte auf und lächelte.
    »Oh, Superintendent – entschuldigen Sie, ich hatte Sie gar nicht gehört. Ich dachte, es wäre Stan – er ist nämlich eben mit der Walze vorbeigegangen.« Sie wollte aufstehen, aber Delphick hielt sie zurück.
    »Nein, ich kann Ihnen doch helfen. Sie haben ja nicht mehr sehr viel zu tun.« Er hockte sich auf die Fersen, nahm die kleine Hacke aus dem Weidenkorb, und in zufriedenem Schweigen jäteten sie das Beet zusammen durch.
    Als alles erledigt und die Geräte geölt und gesäubert waren, setzten sie sich ins Wohnzimmer, und Delphick bat sie, aus dem Gedächtnis eine Skizze von dem taubstummen Kind zu machen.
    Miss Seeton war voller Reue. »Oh, das tut mir aber leid. Wie dumm von mir – ich wußte doch, Sie wollten von jedem Schüler eine Skizze haben. Ich hätte ihn nicht vergessen dürfen – besonders weil ich finde, man hätte ihn in eine Spezialschule schicken sollen, die für ihn geeignet wäre.« Sie ging an den Schreibtisch und suchte Papier und Zeichenstifte hervor.
    »Ich brauche nur eine ungefähre Skizze«, versicherte Delphick.
    Mit erhobenem Stift blieb Miss Seeton einen Augenblick erstaunt und nachdenklich stehen. »Wissen Sie was – ich weiß, es war unachtsam von mir, aber mir fällt gerade ein: Ich habe ihn in Gedanken nie als Kind betrachtet.« Sie begann mit der Arbeit.
    Delphick blieb still sitzen und wartete. Plötzlich ließ Miss Seeton den Zeichenstift fallen und stand auf. »Bitte«, sagte sie und trat erregt und mit unruhigen Händen vom Schreibtisch fort. »Mir ist nicht wohl dabei. Ich möchte es nicht weitermachen. Ich kann nicht.« Flehend sah sie Delphick an. »Mir ist nicht wohl dabei«, wiederholte sie fast verzweifelt. »Bitte, ich… Bitte.«

10
    Delphick ging mit großen Schritten im Wohnzimmer auf und ab, das neben Dr. Knights Praxisräumen lag. Mrs. Knight hatte entschuldigend gesagt, ihr Mann habe sich verspätet: Einer der Ärzte aus der Klinik in Brettenden hatte einen Patienten zur Konsultation mitgebracht, was für einen Samstagmorgen ungewöhnlich war. Sehr lange könne es nicht mehr dauern. Sie hatte Delphick Kaffee angeboten, den er dankend abgelehnt hatte, und nach einem Blick in sein Gesicht hatte sie es für besser gehalten, ihn in Ruhe zu lassen.
    Der Superintendent blieb an dem Tisch stehen, auf den er eine Mappe mit drei von Miss Seetons Skizzen gelegt hatte. Er breitete sie aus und betrachtete nachdenklich das jüngste der Bilder. Erstaunlich. Rätselhaft. >Allerhand< nannte Mel Forby diese lebhaften Strichzeichnungen. Lebhaft war aber eigentlich nur die vollständige Hälfte. Nein – das stimmte nicht, fand er jetzt. Leben – etwas Drohendes, Abschrecken – des lag in dem leeren, unberührt weißen Raum, der die zweite Gesichtshälfte enthalten sollte. Ein gerader dicker Strich lief von oben nach unten über die Seite. Auf der einen Seite sah man das weiche hübsche Jungengesicht – nur war es gar nicht attraktiv, nicht jung. Die andere Hälfte…. sie zeigte nicht die verwischte Totenmaske, die er vielleicht erwartet hatte. Hier gab es keine zweite Hälfte. Es war, als habe jemand einen Strich mitten durch ein fertiges Porträt gezogen – ein so vitales Porträt, daß das Gesicht fast

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