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Miss Seeton kanns nicht lassen

Miss Seeton kanns nicht lassen

Titel: Miss Seeton kanns nicht lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heron Carvic
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zu leben schien –, dann die eine Hälfte abgesäbelt und auf ein weißes Blatt Papier geheftet. Das Resultat war seltsam: gleichzeitig schrecklich und traurig. Ihm fiel ein, wie verzagt Miss Seeton bei dieser Zeichnung gewesen war, wie sie auf einmal nicht weitermachen wollte. Und dabei war es fertig, wenn sie es auch nicht wußte. Er war sicher: alles, was er zu wissen brauchte, lag hier vor ihm – wenn er es nur lesen könnte. Ein Gedanke blitzte auf: Da war doch noch etwas. Was war es? Delphick grübelte. Er betrachtete die beiden anderen Skizzen, die von dem toten Jungen aus Lewisham und die von Effie Goffer. Ja natürlich – das war’s. Die andere Seite. In den beiden anderen war die rechte Seite verwischt. Hier war die linke leer geblieben. Rechts – links… Delphick mühte sich ab und versuchte, sich in die Zeichnung hineinzuversetzen. Dann wurde die rechte Seite zur linken, und die linke Seite, das bedeutete nach traditioneller Anschauung das Herz, das Leben. Die linke, das war die rechte Seite des Porträtierten. Seine Gedanken gingen zurück zu dem Kursus in forensischer Medizin, der zu seiner Ausbildung gehört hatte. Ja, so war es, wenn er sich recht erinnerte. Auf der rechten Seite saß eine der Halsschlagadern, die das Gehirn mit Blut versorgten. Sollte es also Gehirn bedeuten? In den Skizzen der beiden toten Kinder war die lebende Seite verwischt. Hier war das lebendige Element ganz klar, nur das Gehirn fehlte. War das eine Andeutung? Eine Illusion? Delphick bemühte sich, das Blatt objektiv zu betrachten, sich von der hypnotischen Kraft freizumachen und nüchtern zu analysieren. War er hier allzu gefühlsgebunden? Oder hatte die Skizze tatsächlich etwas zu bedeuten?
    Die Tür ging auf, und Dr. Knight trat eilig ein. »Verzeihen Sie, daß ich Sie warten ließ – ich hatte da eine dämliche Patientin mit Blähungen; sie dachte, sie sei schwanger. Was habe ich eigentlich damit zu tun? Ich bin ja kein Gynäkologe. Fontiss war ganz sicher bei seiner Diagnose, aber er hielt es für möglich, daß da nervöse Ursachen mitspielten. Dumme Person – sie hätte Grund genug gehabt, nervös zu sein; ihr Mann ist Soldat und seit einem Jahr in Übersee. Jetzt plagt sie sowohl ihr Gewissen wie mangelhafte Verdauung. Ich kann ihr auch nicht helfen. Fontiss hat ihr schon gesagt, daß sie Pillen braucht, aber keine Hebamme. Sehr ordentlicher Mann, Fontiss – grundzuverlässig. Und was kann ich nun für Sie tun?« Er trat an den Tisch heran und sah die Zeichnungen. »Na, da hat wohl die gute Seeton wieder was fabriziert, was? Oder soll ich Ihnen einen Vortrag halten über die Spaltung des menschlichen Gemüts, wie gehabt?«
    »Ich glaube fast, Sie haben es getroffen«, erwiderte Delphick und zeigte auf den Tisch. »Miss Seeton ist allerdings auch wieder dabei, wie Sie ganz richtig geraten haben. Sie hat mir da ein neues Rätsel aufgegeben, und diesmal kriege ich’s nicht raus.«
    »Und mir trauen Sie’s zu?« Die Augenbrauen des Arztes zuckten. »Na – ich habe ihr eine weitere Dosis Mord verschrieben, und soviel ich weiß, hat sie das literweise genommen. Was haben Sie denn hier?« Er blickte auf die Bilder. »Und worum geht’s Ihnen nun?« Eine kleine Weile schwieg er. Dann: »Wissen Sie – mir gefällt das nicht, diese Zeichnungen. Sehr unerfreulich. Stammt alles von ihr, nehme ich an? Das hier – «, erwies auf die Skizze von Effie Goffer –, »das muß die Zeichnung sein, wegen der sie zuerst zu mir gekommen ist. Ich hab das Bild nie gesehen, aber Anne hat mir davon erzählt. Die gute Seeton sagte, sie habe versucht, die kleine Goffer zu zeichnen, aber es gelänge ihr nicht. Sie dachte schon, sie hätte ‘n Schlaganfall gehabt. Unsinn. Ausgezeichnet in Form. Begreif gar nicht, wie sie das macht – in ihrem Alter.«
    Delphick lächelte flüchtig. »Yoga, das ist’s.«
    Dr. Knight blickte auf. »Ach – ist das ihr Geheimnis? Dann wundert es mich nicht mehr. Sehr vernünftige Person.« Wieder beugte er sich über den Tisch. »Das hier – « und er wies auf die letzte Zeichnung, »- das ist mir am unangenehmsten von allen.« Er blickte immer noch aufmerksam das Bild an. »Wirklich ganz besonders unangenehm«, wiederholte er. »Was soll der Strich da bedeuten?« fragte er dann plötzlich. »Warum hat sie das nicht fertig gemacht?«
    Delphick ging zu einem Sessel und setzte sich. »Sie war unruhig und sagte, sie wollte es nicht weitermachen. Oder könnte es nicht.« Er runzelte die Stirn. »Ich habe

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