Miss Seeton kanns nicht lassen
Das Telefon schnurrte. Er nahm den Hörer auf, horchte und gab ihn weiter an Delphick. »Bob Ranger. Für Sie.«
Der Superintendent hörte sich den Bericht des Sergeant ohne Kommentar an, sagte dann: »in Ordnung« und legte den Hörer auf. Er sah aus wie vom Donner gerührt.
»Wieder was los?« fragte der Arzt.
Delphick schlug sich mit der Hand vor die Stirn, was zwar nicht viel half, aber seine Gefühle deutlich ausdrückte. »Bob ist auf dem Weg hierher, mit dem Wagen. Er hat gerade einen Anruf aus Ashford bekommen: die behaupten, Miss Seeton habe einen Toten zum Leben erweckt und sei mit ihm weggefahren.«
»Nicht immer bequem, aber nie langweilig«, meinte der Arzt. »Und wer ist der Tote?«
»Ein Bankkassierer, der mit unterschlagenen Geldern geflüchtet ist. Er hat seine Freundin in Ashford umgebracht, und dann wurden neulich seine verkohlten Überreste in dem ausgebrannten Wagen gefunden und identifiziert. Ich muß sagen, es kam mir gleich verdächtig vor – allzu gelegen für ihn, da das ganze Geld und ihr Schmuck noch immer verschwunden waren. Aber wie, zum Teufel, kommt Miss Seeton da nun wieder rein?« Delphick trat in die Diele. »Sie hat doch nie was mit ihm zu tun gehabt.« Er blieb stehen und knöpfte sich den Mantel zu. »Allerdings, gesehen kann sie ihn haben. Er war in der Bank in Brettenden angestellt. Aber wie sie jetzt an ihn geraten sein kann – wenn er noch lebt, würde er sich doch nicht ausgerechnet in Brettenden sehen lassen. Na, wir haben jedenfalls eine Adresse, bei der wir ansetzen können.«
Der Arzt folgte ihm zur Eingangstür. »Sie machen sich Sorgen um sie?«
Delphick fuhr ungestüm herum. »Ist das ein Wunder? Wenn das der Mann ist, dann hat er bereits zwei Menschen umgebracht. Wenn sie ihn erkannt hat, ist das ihr Ende.«
Dr. Knight hielt die eine Schwingtür auf. »Das verstehe ich. Aber Kopf hoch – die ist nicht totzukriegen, glauben Sie mir. Sie wird Ihnen wahrscheinlich entgegenkommen und sagen: >Aber nein, Superintendent, was für ein Zufall!<«
Delphick lachte erleichtert. Er trat durch die Tür und sah, als er die Stufen hinunterging, Bob vor dem Haus ankommen.
Der Scheck für die Schulkinderskizzen kam mit der Post, adressiert wiederum an >Miss Ess<. Wirklich sehr anständig von der Polizei – und natürlich höchst willkommen. Und ein angenehmes Gefühl, daß der Superintendent ihr das Geld nicht aus reiner Freundlichkeit zukommen ließ. Er war allerdings, wenn er etwas von ihr haben wollte, immer einigermaßen unnachgiebig, man konnte fast sagen, hartnäckig, bei dem letzten… Sehr schade, daß sie da nichts hatte tun können, und eigentlich dumm, daß sie sich so töricht benommen hatte. In ihrem Alter mußte man seine Gefühle im Zaum halten. Miss Seeton kräuselte abfällig die Lippen. Nun, am besten dachte man nicht mehr daran. Sie durfte nicht vergessen, auf die Bank zu gehen. Das war nun wirklich in mancher Hinsicht jetzt angenehmer. Wenn es natürlich auch eine schreckliche Sache war und blieb. Aber der arme Mann hatte für seine Torheit bezahlt. So ein gräßlicher Tod. Immerhin, es war jetzt angenehmer. Der Weg zur Bank nämlich. Aber wenn man an die Frau dachte, die er da in Ashford gehabt und dann umgebracht hatte… Lieber nicht daran denken. Sie hatte in Brettenden ein paar Besorgungen zu machen, dann konnte sie den Scheck gleich einlösen, das sparte Porto. Dieser neue junge Mr. Jestin – wirklich eine gute Idee, die Namensschilder an den Schaltern – sah zwar noch sehr jung aus für einen Hauptkassierer, denn das war er ja nun geworden, aber wenigstens machte er einen sehr zuverlässigen Eindruck. Und dazu so freundlich. Immer begrüßte er einen mit Namen und sagte »guten Morgen« oder »guten Abend«, wie es gerade kam. Und nie hatte man bei ihm das Gefühl, er habe was Besseres zu tun, als einen zu bedienen.
In der Bank ließ Miss Seeton ihre Einkäufe auf dem Tresen fallen und begann ein Formular auszufüllen. Zum Glück war vor ihr nur noch ein Mann am Schalter – manchmal mußte man länger warten. Der Mann vor ihr unterhielt sich mit dem Kassierer. Miss Seeton blickte auf. Also, das war doch interessant. Oder vielmehr – es war interessant, weil es so uninteressant aussah. Eigentlich ungewöhnlich, einen Epikanthus in einem Langschädel anzutreffen, aber dieser Schädelumfang und dann das glatte dunkle Haar, die dunklen Augen und die flachen Backenknochen ließen den Mann zwar fremdländisch, aber doch normal aussehen. Fast
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