Miss Seeton kanns nicht lassen
langweilig – vergleichsweise. Und natürlich völlig verschieden von dem andern Mann, dem Hauptkassierer, der kürzlich umgekommen war, mit seinen stechenden hellblauen Augen und lockigen blonden Haaren. Die Kopfform war natürlich die gleiche. Komisch, was so ein Farbunterschied ausmachte. Zweifellos ein sehr interessanter Vergleich. Ohne es zu wissen, drehte sie ihr Formular um und begann auf der Rückseite, den Vergleich mit ein paar Strichen festzuhalten.
Der Mann vor ihr wandte sich um. Als Miss Seeton sich beim Anstarren ertappt sah, lächelte sie unsicher. Die dunklen Augen verengten sich, die Lippen unter dem dünnen schwarzen Bärtchen setzten zum Sprechen an.
»Miss Seeton, nicht wahr?« Erstaunt nickte sie. »Da habe ich Glück«, sagte der Mann. »Hoffentlich halten Sie mich nicht für unhöflich, daß ich Sie einfach so anrede. Sie kennen mich nicht, aber ich habe Sie schon lange gern kennenlernen wollen.«
Miss Seeton wußte darauf nichts zu sagen als: »Oh –?«
Der Mann war fertig am Schalter und trat zur Seite. Miss Seeton reichte Mr. Jestin ihren Scheck und das Formular; er nahm beides und sagte freundlich: »Guten Morgen, Miss Seeton. Danke vielmals. Heute ist es viel wärmer, nicht wahr?«
»Guten Morgen, Mr. Jestin«, erwiderte Miss Seeton. »Danke schön. Ja, ganz anders heute.« Sie wandte sich um.
»Gestatten Sie.« Der dunkle Mann nahm ihren Einkaufsbeutel an sich. Ob sie hier in der Bank eine Szene machen würde? Oder hatte sie vor, die Schlaue zu spielen? Sie schien ja gern allein vorzugehen – brachte ihr wahrscheinlich mehr ein. Er ging zur Tür. Die alte Kuh hatte ihn erkannt, das hatte er an ihrem wissenden Lächeln gesehen. Aber daß er zuerst sprach, damit hatte sie nicht gerechnet, sie hatte ihn bloß blöd angesehen und »Oh -?« gesagt. Er hielt ihr die Tür auf und wartete. Wahrscheinlich wollte sie Jestin nach seinem Namen und seiner Adresse fragen, sobald er aus der Tür war, aber er ging nicht – er blieb, solange sie blieb. Sie mußte also entweder jetzt ihre Karten auf den Tisch legen oder seinem Spiel folgen. Miss Seeton murmelte »danke« und ging an ihm vorbei. Er folgte nach draußen. Wenn er sie glauben machen konnte, er habe nicht gemerkt, daß sie ihn durchschaut hatte, dann hatte er noch eine Chance und konnte gewinnen, auch wenn sie sich für noch so schlau hielt. Seine Adresse wollte sie -? Die sollte sie haben. Als Finale.
»Sehr freundlich.« Miss Seeton streckte die Hand nach ihrem Beutel aus. Der Mann behielt ihn in der Hand.
»Wenn Sie etwas Zeit hätten«, fragte er unbeholfen, »ob Sie mir vielleicht bei einem Problem helfen würden?«
»Bei einem Problem?« wiederholte sie erstaunt.
Auch noch sarkastisch? Na schön – sie wollt’s also im Alleingang schaffen. War ja auch verführerisch: »Detektivin fängt gesuchten Mörder.«
»Ich weiß, es ist eine Zumutung«, fuhr er hastig fort, »aber ich habe meinen Wagen hier, und ich wohne in der Nähe, eben außerhalb von Brettenden. Sehen Sie, ich möchte nicht auf der Straße darüber reden oder in einem Cafe, wo einem Leute zuhören können. Sie werden schon erraten haben – es betrifft Superintendent Delphick. Wenn Sie einen Augenblick mit mir nach Hause kommen würden, wäre ich Ihnen wirklich sehr dankbar. Selbstverständlich bringe ich Sie nachher wieder heim.«
»Ja – aber ich weiß wirklich nicht…« meinte Miss Seeton zweifelnd.
Aha: Sie wurde nervös. Nicht mehr ganz so sicher, was? Er ging zum Wagen und öffnete die Tür. »Bitte, Miss Seeton. Wenn es nicht so wichtig wäre, würde ich Sie gewiß nicht belästigen.«
Sie zögerte noch. »Ich…« Ein merkwürdiger Mann. Geradezu unhöflich wollte man ja auch nicht sein. Und auch nicht unfreundlich, wenn man um Hilfe gebeten wurde. Er schien ja zu glauben, sie könne ihm helfen. Wieso sie allerdings einem völlig Fremden… Andererseits: Sie hatten dieselbe Bank, das genügte vielleicht als Einführung. Auch Mr. Jestin schien ihn ja zu kennen; er war also wohl in Ordnung.
Aber merkwürdig war es doch, und sie konnte sich um die Welt nicht vorstellen – fragen konnte man ihn ja nicht gut, da er ganz einleuchtend gesagt hatte, vor anderen Leuten lasse sich so etwas nicht besprechen; und wenn es Delphick betraf, so war das natürlich ganz verständlich – was sie für ihn tun konnte. »Könnten Sie mir nicht sagen«, fragte Miss Seeton, »was Sie glauben, das ich für Sie tun kann?«
Doppelzüngige alte Natter. Was sie für ihn
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