Miss Seeton riskiert alles
sich ihrem Gast zu. »Haben Sie zu Mittag gegessen – hätten Sie gern eine Tasse Kaffee?«
»Nein, nichts, danke. Es ist nur wegen gestern abend. Ich muß mit Ihnen sprechen!«
»Bitte, setzen Sie sich. Ich – « Sie brach ab, da wieder an die Haustür geklopft wurde. Sie hörten streitende Stimmen, dann kam Martha zurück.
»Eine Dame und ein Herr sagen, sie würden Sie kennen. Es ist Miss Forby von der Zeitung, die früher schon einmal hier war. Der Mann kennt Sie vom Ausland her, was mir unwahrscheinlich vorkommt, denn er redet nicht so. Hört sich eher wie ein Engländer an. Ist aber sicher, daß Sie ihn sprechen wollen.«
»Natürlich will sie das, nicht wahr, Miss S.?« Mel kam hereingefegt, hinter ihr Thrudd Banner. »Dieser Drache«, sie grinste Martha an, »war entschlossen – « Sie unterbrach sich, als sie das Mädchen sah. »Oh, Entschuldigung. Wir wußten nicht, daß Sie Besuch haben.« Und dazu noch Deirdre Kenharding, überlegte Mel. Miss S. kam zweifellos herum. Sie neigte sich über Miss S. und küßte sie leicht auf die Wange. »Nun, was haben Sie während dieser ganzen Zeit getrieben? Gut, daß ich Sie antreffe – zu lange her, aber Sie wohnen so weit weg.« Sie fühlte die Befangenheit und versuchte, die Stimmung aufzulockern. »Darf ich in die Küche gehen und einen Kaffee brauen? Das Zeug im St. Georg ist scheußlich, und ich kenne den Weg noch genau.«
»Ich mache welchen«, sagte Martha und ging hinaus.
Miss Seeton war aufgestanden. Du meine Güte! Das war alles ziemlich peinlich. Sie war sich nicht sicher, wie sie sie miteinander bekannt machen sollte. Man sollte natürlich den Jüngeren dem Älteren vorstellen, aber den Mann immer zuerst, wenn eine Frau… Doch sie kannte den Familiennamen des Mädchens nicht. Es wäre sehr unschicklich, sie nach einer so kurzen Bekanntschaft Deirdre zu nennen. Das konnte sie bestimmt nicht tun. »Deirdre«, sagte Miss Seeton, »darf ich Sie mit Miss Forby und Mr. Banner bekanntmachen?«
Sie fanden alle eine Sitzgelegenheit. Es entstand ein beklommenes Schweigen. Um das Eis zu brechen, fragte Thrudd Miss Seeton im Plauderton: »Viel geschossen kürzlich?«
Damit war die Unterhaltung zu Ende. Sie begrüßten es fast, als draußen ein Wagen vorfuhr und wieder jemand an die Haustür klopfte.
»Mr. Delphick«, verkündete Martha.
Miss Seeton erhob sich erleichtert. Die strahlenden Gesichter von Mel und Thrudd verrieten: Das ist genau, was wir wollten. Deirdre Kenharding jedoch verkroch sich erschrocken in ihren Sessel. Sie begann zu begreifen, daß sie töricht gehandelt hatte. Aus den Morgenzeitungen hatte sie geschlossen, daß es Miss Seeton gewesen sein mußte, der sie am vorherigen Abend begegnet war. Impulsiv hatte sie sich entschieden, sie aufzusuchen und um Hilfe zu bitten. Ihr Bemühen, vom Barmixer im Kasino Informationen zu erhalten, war fehlgeschlagen. Als sie nicht mehr wußte, was sie noch tun könnte, war ihr die Begegnung mit der alten Frau wie ein Wink des Schicksals erschienen, den man nicht ignorieren durfte. Der Daily Negative hatte seinen Artikel mit einer kurzen Zusammenfassung von Miss Seetons Heldentaten garniert und den Namen des Dorfes erwähnt, in dem sie wohnte. Nachdem sie Plummergen auf der Karte gefunden hatte, war sie losgefahren und hatte unterwegs zeitig zu Mittag gegessen. Als sie das Dorf erreichte, brauchte sie nur noch in der Poststelle, der auch ein Laden angeschlossen war, nach Sweetbriars zu fragen.
Deirdre hatte gelesen, daß Scotland Yard Miss Seeton als Künstlerin beschäftige, daß sie aber nicht zur Polizei gehörte, obwohl die Zeitungen gern ihre großen Fähigkeiten als Detektiv unterstrichen. Daher hatte sie das Gefühl, Miss Seeton könnte ihr vielleicht ganz privat als Mensch helfen. Sie war so sehr mit ihrem eigenen Problem beschäftigt, daß ihr nicht der Gedanke gekommen war, die Polizei würde nach dem Tumult vor dem Kasino noch in Erscheinung treten, und daß unweigerlich auch die Presse auf der Szene sein würde. Deirdre war geradewegs in genau die Gesellschaft geraten, die sie unter allen Umständen vermeiden wollte. Da es jedoch nun einmal passiert war, konnte sie nur das übliche Interesse für Miss Seetons Wohlergehen vortäuschen – obwohl, wie sie sich zaghaft eingestand, eine Reise von siebzig Meilen dafür etwas zu lang war. Sie mußte versuchen, länger als die anderen Besucher zu bleiben.
Delphick fühlte die Spannung im Raum. Er hatte gehofft, Miss Seeton allein anzutreffen; es
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