Miss Seeton riskiert alles
mit gestern abend zu tun?«
Das Mädchen war verblüfft. »Oh, ich dachte, Sie wüßten es. Vater ist einer der Direktoren des Goldfisch.«
Das war es also! »Ich erinnere mich tatsächlich, daß Mr. Thatcher sich nach Ihrem Vater erkundigte und Grüße bestellte.«
»Drohungen bestellte, meinen Sie«, erwiderte Deirdre.
Nein, wirklich. Das war zu melodramatisch! Es stimmte zwar, daß sie von Mr. Thatchers Benehmen nicht angetan gewesen war. Aber Drohungen? Sie sah im Geist ihre eigene Karikatur vor sich, die ihr widersprach. Aber das, argumentierte Miss Seeton bei sich, war reine Phantasie und stand in keiner Beziehung zu den Tatsachen. Du meine Güte! Es war alles so verwirrend! Wenn Deirdre nur zur Polizei gegangen wäre! Aber auch diese Schwierigkeit konnte man verstehen. Wenn ihr Vater darauf bestand, daß er die Schuld hatte, konnte die Polizei nichts tun, ganz gleich, was die Garage – oder Deirdre – sagte. Auch konnte man dem Mädchen nicht gut raten, gegen den Willen ihrer Eltern zu handeln. Jedenfalls nicht, solange man nicht sehr viel mehr über die Umstände wußte. Es war ganz unmöglich zu glauben, daß Mr. Thatcher, jemand, dem man tatsächlich begegnet war . Aber es war ebenso offensichtlich, daß die Polizei es glaubte. Daß Mr. Thatcher nicht astrein war. Miss Seeton, die sich wieder unbehaglich fühlte und deren Gedanken im Kreis liefen, stieß einen Seufzer aus. Sie wünschte so sehr, daß der Chefsuperintendent zugegen wäre. Es war alles so – so außerordentlich verwirrend.
»Es ist alles so außerordentlich verwirrend«, wiederholte Miss Seeton laut die Schlußfolgerung, zu der sie gelangt war.
Deirdre unterdrückte ein Lächeln. Sie hatte Miss Seeton am vorherigen Abend beobachtet, als sie von dieser fürchterlichen Kriegsbemalung entstellt gewesen war, völlig gleichgültig um große Summen spielte und nicht mit der Wimper zuckte, als Thatcher ihr, wie das Mädchen jetzt erkannte, ziemlich deutlich gesagt hatte, er wisse, daß sie schwindle. Sie schien sich überhaupt keine Gedanken darüber zu machen, daß sie und Tom Haley gleich danach überfallen worden waren. Sie hatte nicht einmal daran gedacht, dem Chefsuperintendenten die zusätzliche Zeichnung zu geben, bis dieser es erraten und darauf bestanden hatte. Wahrscheinlich hatte sie darin einige Überlegungen für den eigenen Gebrauch hineinverwoben. Nach dem, was die Zeitungen sagten, mußte sie eine tüchtige Detektivin sein. Die beiden Journalisten, die sie zum Abendessen ausführen wollten, dachten offenbar auch so und hofften, etwas aus ihr herauszubekommen. Und jetzt, um allem die Krone aufzusetzen, behauptete sie, sie sei verwirrt.
»Niemand würde je auf den Gedanken kommen, Sie seien eine Detektivin«, bemerkte Deirdre.
»Niemand würde damit recht haben«, sagte Miss Seeton scharf. »Abgesehen von einer Art Phantomzeichnung, die ich mache, wenn aus irgendeinem Grund Fotos nicht möglich sind, weiß ich nichts über die Arbeit der Polizei. Es wäre sehr unpassend.«
Man konnte Deirdre Kenharding ihren Irrtum kaum zum Vorwurf machen. Sogar einige Mitglieder der Polizei, unter ihnen Haley, blieben dabei, daß Miss Seeton eine gewitzte Detektivin sei, offenbar weil diese Vorstellung vielleicht eine romantische Lücke in ihrem Leben ausfüllte.
Das Mädchen tastete nach dem Verschluß ihrer Handtasche. »Ich weiß nicht, wie hoch ein Honorar für eine Nachforschung ist. Aber ich habe gestern abend gewonnen…« Sie hielt Miss Seeton ein Bündel Banknoten hin.
Statt das Geld zu nehmen, war ihre Gastgeberin empört. »Das ist völlig ungerechtfertigt. Wenn ich in irgendeiner Weise helfen könnte, würde ich es tun.« Miss Seeton wurde sanfter. »Aber ich verstehe natürlich Ihre Bedenken, zur Polizei zu gehen. Ich glaube, sie arbeiten hauptsächlich mit dem, was die Leute ihnen sagen; natürlich, wenn sie schweigen, können sie nichts unternehmen. Aber daß Sie glauben, ich würde für Geld…« Bestürzt runzelte sie die Stirn.
Die Erklärung für die Widersprüchlichkeiten in Miss Seetons Leben ist vielleicht darin zu suchen, daß sie unbestritten alles wörtlich nimmt und daß es nie sicher ist, an welchem Punkt ihre Phantasie beginnt oder wo sie endet. Die Meinungen über sie gehen auseinander: Die Direktorin der kleinen Schule in Hampstead, an der Miss Seeton viele Jahre lehrte, behauptet, daß sie mit einer guten Absicht mehr Durcheinander schaffte, als die Kinder in einem Jahr an Unfug aushecken können.
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