Miss Seeton riskiert alles
runzelte sie die Stirn, »Vater sprach nachher nicht darüber. Dann geschah in der letzten Woche der Unfall, und jetzt bin ich ziemlich überzeugt, daß man ihm einen Schrecken einjagen wollte. Ich bin in den Goldfisch gegangen, um Genaueres herauszubekommen. Der Barmixer war keine Hilfe und – nun, das ist alles«, schloß sie. »Ausgenommen«, fügte sie mit Befriedigung hinzu, »daß Thatcher meine Anwesenheit dort nicht gefiel.«
Eines war Miss Seeton nicht klar. »Ist Mr. Thatcher ein Freund der Familie?«
»Du lieber Himmel, nein. Vor dem Goldfisch-Geschäft haben wir niemals von ihm gehört.«
»Meinen Sie nicht«, sagte Miss Seeton, »daß Ihr Bruder jetzt, da ihm eine Lektion erteilt wurde, ruhiger wird? So viele junge Menschen machen Dummheiten nur um der Erfahrung willen und kommen dann darüber hinweg.«
»Was für ein Gedanke! Sie kennen Derrick nicht!« Deirdre ergriff die Gelegenheit beim Schopf. »Das ist der springende Punkt. Wenn Sie hinkommen und das nächste Wochenende bei uns verbringen – Derrick ist dann bestimmt da. Sie könnten die ganze Familie kennenlernen und sich überlegen, was Sie von uns halten. Wenn Sie glauben, daß alles in Ordnung ist und ich unrecht habe, gehe ich zum Psychiater.« Sie nahm ihre Handtasche und erhob sich.
Ein Wochenende in einem fremden Haus mit vollkommen fremden Menschen verbringen? Das kam natürlich gar nicht in Frage! Aber wie sollte man es ihr taktvoll beibringen? »Leider«, sagte Miss Seeton, »kommt das gar nicht in Frage.«
»Warum?« Jetzt war es an Deirdre, Fragen zu stellen.
Warum? Sie hatte geglaubt, das verstehe sich von selbst. Sie fand eine plausible Entschuldigung. »Weil es ganz unmöglich wäre, mich so einfach in Ihre Familie einzuschmuggeln. Und ebenso unmöglich, eine Begründung dafür zu finden.« Deprimiert mußte sie feststellen, daß die Entschuldigung, als sie ausgesprochen war, nicht überzeugend, tatsächlich sogar ziemlich lahm klang.
»Einfach.« Deirdre schob den Einwand beiseite. »Sie haben mich in der Schule zeichnen gelehrt.«
»Das stimmt nicht.«
»Aber ja!« Deirdre glühte vor Begeisterung. »Erinnern Sie sich nicht? Sie kamen als Vertretung, weil der alte Rattles krank war. Wie konnten Sie das nur vergessen?«
Ihre Augen tanzten, und ihr strahlendes Lächeln leuchtete auf wie die Sonne über einer schönen Landschaft. »Das ist also abgemacht.«
»Nein…«
»Ja. Ich hole Sie Samstag nachmittag ab. Oh, übrigens«, sie gab sich große Mühe, zwanglos zu erscheinen, »wenn Sie Tom Haley sehen, entschuldigen Sie mich doch bitte bei ihm. Leider war ich gestern abend ziemlich grob. Ich wußte nicht, daß er auch Theater spielte.«
Als Delphick im Yard Borden Miss Seetons Skizzen vorlegte, ließ man Tom Haley kommen.
»Das ist er, Sir«, Haley zeigte auf die Karikatur. »Das ist er, wie er leibt und lebt.«
Inspektor Borden war unschlüssig. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir den Steckbrief eines verdammten Vogels hinausschicken und danach eine Identifizierung verlangen können. Wenn wir jemals damit als Beweis vor Gericht gehen müssen, werden wir uns schön lächerlich machen. Wie steht’s mit diesem Bild?«
»Ja, schon, Sir.« Haley war nicht begeistert. »Es sieht ihm ähnlich, das ja – ich meine, es besteht eine ganz gute Ähnlichkeit, aber«, er schüttelte den Kopf, »er ist nicht so gut getroffen wie auf der Vogelskizze. Das ist er tatsächlich irgendwie.«
»Warum machen wir nicht einen Ausschnitt, der nur den Kopf wiedergibt und alles andere wegläßt?« schlug Delphick vor.
»Das könnte genügen, Orakel – es genügt.« Borden steckte die zweite Zeichnung wieder in den Umschlag. »Und wir werden das Bild dem Personal von Kenharding Abbey und den Leuten im Dorf zeigen. Mal sehen, ob sie Thatcher erkennen.« Haley beugte sich gespannt vor. Der Inspektor bemerkte die Bewegung. »Gut«, sagte er zu ihm, »das ist Ihre Aufgabe – besser als wenn sich ein Ortspolizist darum kümmert, der ihn vielleicht nie gesehen hat. Aber«, warnte er, »betrinken Sie sich nicht! Keine Gin-mit-Sekt-Geschichten! Nehmen Sie dies.« Er gab Haley die Karikatur. »Lassen Sie einen Ausschnitt machen und fotokopieren. Nehmen Sie die Kopien mit, und fahren Sie morgen hin.«
»Morgen kann ich nicht, Sir. Ich bin morgen und am folgenden Tag im Gericht.«
»Verdammt«, der Inspektor prüfte seinen Schreibtischkalender. »Dann fahren Sie am Freitag, nein, noch besser am Samstag. Das ist unauffälliger. Junger Mann
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